Ein Neujahrsfest voller Gewalt
Erneut Ausschreitungen in Ostjerusalem
»Allahu akbar« - Gott ist groß. Der Ruf tönt durch die Gassen Ostjerusalems. Immer wieder greift jemand die Parole auf, alte Frauen mit Kopftüchern formen die Hand vor dem Mund zum Sprechrohr, kleine Jungs springen aufgeregt vor den Marktständen der Händler auf und ab. Jäh wird der Gottesgruß unterbrochen, ein lauter Knall übertönt die Rufe. Plötzlich schießen die Menschen in den Gassen auseinander, drücken sich an die kalten Steinwände der Jerusalemer Altstadt, flüchten in die schmalen Läden. Ein israelischer Soldat hat eine Blendgranate geworfen. Eine Mischung aus Magnesium und Perchlorat explodiert nach dem Wurf so laut, dass die Ohren dröhnen, ein heller Blitz macht die umstehenden Personen kurzzeitig orientierungslos. Ein junger Mann schreit schmerzverzerrt auf, ein Stück der Granate hat ihn am Rücken getroffen.
Es ist der dritte Tag nach dem Beginn der Ausschreitungen am Tempelberg an der Al-Aqsa-Moschee. Kurz vor Beginn des jüdischen Neujahrsfestes ist es am Sonntagmorgen zu Auseinandersetzungen zwischen israelischen Sicherheitskräften und Muslimen gekommen. Wie die israelische Polizei berichtete, hätten sich über Nacht maskierte Demonstranten in der Moschee verschanzt und Steine und Feuerwerkskörper auf die Beamten geworfen. Polizeisprecherin Luba Samri sagte, die jungen Muslime hätten sich in der Moschee verbarrikadiert, um die erwarteten jüdischen Besucher zu stören. Nach palästinensischen Angaben seien die israelischen Sicherheitskräfte in die Moschee eingedrungen und hätten die Moschee verwüstet. Es habe zwei Verletzte und neun Festnahmen gegeben. An jüdischen Feiertagen, wie dem Neujahrsfest Rosh Hashana, ist der Zugang zum Tempelberg nur für Juden gestattet, Muslime dürfen dann nicht zur Moschee um dort zu beten.
Die Al-Aqsa-Moschee gilt als eine der drei wichtigsten heiligen Stätten im Islam. Auch für Juden ist der Tempelberg heilig: Da an der Stelle des Felsendoms und der Al-Aqsa-Moschee einst der zweite jüdische Tempel stand, dessen einzig übrig gebliebene Mauer nun als Klagemauer verehrt wird, ist auch für Juden das auf einem Hochplateau gelegene Areal ein heiliger Ort.
Abdalafo lebt in Jerusalem, als die Blendgranate fliegt, bewegt er sich keinen Meter. Angst? Nein, Angst habe er keine, sagt er und erzählt, dass er selbst am Tag zuvor am Rücken von einem Gummigeschoss getroffen wurde. Die Stelle ist rot und blau angeschwollen. Schmerzhaft sei es schon, aber nicht so schlimm sagt der 26-jährige. Er ist als freier Journalist in Jerusalem tätig, für Nachrichtenagenturen liefert er Bild- und Videomaterial. Auseinandersetzungen wie die in den Gassen Ostjerusalems vor dem Zugang zur Al-Aqsa-Moschee gibt es immer wieder, erzählt er. Zuletzt kam es im Juli an Tisch BeAw, einem jüdischen Feiertag, der an die Zerstörung des Tempels erinnert, zu Zusammenstößen.
Abdalafo zückt sein Handy, er hat das Geschehen vor dem Zugang zur Moschee am ersten Tag dokumentiert. Auf einem Video ist zu erkennen, wie ein israelischer Soldat eine alte Frau mit Kopftuch gegen eine Wand drückt. Ein anderes zeigt rennende schreiende junge Männer, israelische Soldaten hinterher.
Während Abdalafo die Handyvideos zeigt, beginnt der Sprechchor mit »Al-Aqsa« und »Allahu Akbar«-Rufen wieder anzuschwellen. Vier israelische Soldaten eskortieren eine junge jüdisch-orthodoxe Familie mit drei Kindern durch die Gasse. Die Muslime drücken sich an die Wände, schreien immer lauter ihren Gottesruf. Ein Soldat richtet sein Sturmgewehr auf die Umstehenden, reckt es dann demonstrativ in die Höhe.
Seit Jahren fordern radikale jüdische Gruppen, den jüdischen Tempel auf dem Tempelberg neu zu errichten. Das jedoch lehnt die israelische Bevölkerung in großen Teilen ab. Es würde den Abriss der Moschee und des Felsendoms bedeuten. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu beschwichtigte im aktuellen Konflikt: Von einer Änderung des aktuellen Status Quo sei momentan nicht auszugehen. Seit Israel Ostjerusalem 1967 besetzte, dürfen Juden den Tempelberg zwar noch besuchen, dort jedoch nicht beten. Die israelische Polizei hat die Sicherheitshoheit auf dem Tempelberg, während die jordanische Stiftung Wakf dort für die Religionsausübung zuständig ist. Auch die jordanische Wakf-Stiftung ist seit den jüngsten Ausschreitungen vom Tempelberg vertrieben. Der Palästinenserpräsident Abbas verurteilte »scharf den Angriff von Armee und Polizei der Besatzungsmacht auf die Moschee und die dortigen Gläubigen«. Er sprach von einer Verletzung, die er nicht zulassen wolle. Auch die Regierungen Jordaniens und Ägyptens kritisierten die Eskalation.
»Es wird immer schlimmer in den letzten Jahren«, sagt Ahmad. Er lebt hier in der Altstadt, sein Vater besitzt ein kleines Ladengeschäft. Er legt gerade kleine Holzkreuze, Rosenkränze und Krippenfiguren in die Auslage, Souvenirs für die Touristen. Wie er die Situation sehe? Ahmad klatscht in die Hände, es sei ganz klar ein politischer Wille der Eskalation zu erkennen, meint er. Und klar, die Ausschreitungen jetzt geschehen auch als Zeichen der Besatzung, um die Unterdrückung weiter zu sichern, sagt er. »Sie wollen uns die Moschee wegnehmen«, da ist Ahmad sich sicher.
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