Flashbacks im Flüchtlingsheim
Rund jeder zweite Geflüchtete leidet unter Traumata oder Depressionen
Sie wurden bedroht, gefoltert, vergewaltigt oder mussten mit ansehen, wie Familienangehörige attackiert oder getötet wurden. Mehr als 70 Prozent der Flüchtlinge, die derzeit nach Deutschland kommen, haben nach Schätzungen der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) Traumatisches erlebt, so deren Präsident Dietrich Munz. »Mindestens die Hälfte der Flüchtlinge ist psychisch krank«, sagte Munz, gestützt auf empirische Untersuchungen. Am häufigsten seien posttraumatische Belastungsstörungen sowie Depressionen bis hin zu Suizidgefahr. 70 Prozent der 800 000 Flüchtlinge, die in diesem Jahr in Deutschland erwartet werden, wurden demnach Zeugen von Gewalt. Über die Hälfte hat selbst Gewalterfahrungen, viele wurden gefoltert. Neben Kriegsereignissen in der Heimat »spielen auch traumatische Erfahrungen auf der Flucht eine Rolle«, sagte die BPtK-Expertin Theresa Unger.
Auch 40 Prozent der Flüchtlingskinder mussten nach BPtK-Schätzungen Gewalt miterleben, »26 Prozent mussten zusehen, wie ihre Familienmitglieder angegriffen wurden«. Die Folgen sind individuell unterschiedlich. Mehr als 40 Prozent der erwachsenen Flüchtlinge leiden unter Albträumen, 50 Prozent haben die gefürchteten Flashbacks, bei denen jemand ein traumatisches Erlebnis im Kopf erneut durchlebt, »als ob es sich gerade tatsächlich wieder ereignet«, beschrieb Munz.
Typisch sind hohe Geräuschempfindlichkeit und Schreckhaftigkeit sowie Schlaflosigkeit; aber auch räumliche Enge in einem Verkehrsmittel oder einer überfüllten Unterkunft kann Flashbacks auslösen. Werden solche Störungen nicht behandelt, können sie chronisch werden und eine Integration in Arbeit, Schule oder Ausbildung be- oder gar verhindern.
Wirksamstes Heilmittel wäre eine Psychotherapie, doch die Hindernisse sind vielfältig. Flüchtlinge haben in den ersten 15 Monaten ihres Aufenthalts nur Anspruch auf medizinische Akutversorgung, »psychische Erkrankungen werden von den Sozialbehörden in der Regel nicht dazu gezählt«, kritisierte Munz. Meist gebe es allenfalls Medikamente, die nur Symptome kurieren - und unerwünschte Nebenwirkungen hervorrufen.
Die Psychotherapeutenkammer forderte daher mehr qualifizierte Gutachter in den Sozialämtern, die psychischen Behandlungsbedarf erkennen können. Auch müssten alle Flüchtlinge »grundsätzlich die medizinische Versorgung erhalten, die in Deutschland als notwendig erachtet wird, um kranke Menschen zu behandeln«. Den nächsten Engpass gibt es bei der Zahl der Psychotherapeuten, die mit Krankenkassen abrechnen können. Fachkräfte, die in den Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge arbeiten, gehören meistens nicht dazu. »Wir könnten den Bedarf mit approbierten Kräften decken«, sagte Munz, dafür müssten aber mehr Psychotherapeuten zumindest befristete Kassenzulassungen für die Behandlung von Flüchtlingen erhalten. Rechtlich sei dies möglich, es müsse aber von Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenkassen umgesetzt werden.
Derzeit werden laut BPtK bundesweit jährlich 3000 bis 4000 psychotherapeutische Behandlungen für Flüchtlinge angeboten. Der Bedarf sei jedoch zwanzig mal höher, selbst wenn man berücksichtigt, dass viele Erkrankte sich beispielsweise aus kulturellen Gründen keiner Behandlung unterziehen möchten. AFP/nd
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