Propaganda der Lebensschützer
Der Theologe Michael Ramminger wirft einen Blick auf die christlichen Fundamentalisten, die am Samstag in Berlin demonstrieren
Bereits zum elften Mal findet am Wochenende in Berlin der jährliche »Marsch für das Leben« des reaktionären Bundesverbandes Lebensrecht statt. In ihm ist auch eine Reihe christlicher Gruppen organisiert. Sie kommen aus sehr unterschiedlichen Traditionen: reaktionäre KatholikInnen und ProtestantInnen - Überreste aus der formierten Gesellschaft der 50er Jahre -, aus der neueren katholischen, sogenannten charismatischen Bewegung oder aus protestantischen freikirchlichen Traditionen.
Genauso schwierig, wie es einzuschätzen ist, welche gesellschaftliche Bedeutung diese Bewegung hat, ist es kaum möglich, ihren innerkirchlichen Einfluss zu bewerten. Klar ist, dass sie mit ihrer Interpretation von Begegnungen und sogenannten Grußworten offizieller Kirchenrepräsentanten offensiv Propaganda treiben. So warben sie 2014 mit einem Grußwort durch Papst Franziskus. Kardinal Pietro Praolini schrieb in dessen Namen: »Wo Menschen ausgesondert werden, beraubt sich die Gesellschaft der Wurzeln ihrer Existenz. Sie wird zu einem System, in dem alles dem Streben nach Gewinn und Nützlichkeit unterworfen ist und der Mensch als Person keine Rolle mehr spielt.« Das Grußwort bezieht sich also an keiner Stelle auf Abtreibungs- oder ähnliche Fragen.
Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Marx, hat ebenfalls ein Grußwort geschrieben, in dem er sich in der Tat auf Abtreibungsfragen bezieht. Allerdings auch auf das Lebensrecht von Flüchtlingen, die Problematik von Eugenik und Präimplantationsdiagnostik. In einem Interview mit kath.net schreibt das Mitglied des Bundesverbandes Lebensrecht, Martin Lohmann, im Blick auf deren widerliche Verteilaktionen von Embryonenmodellen wohl realistisch: »Weil wir diese schönen Modelle nutzen ... hat man uns zum Beispiel bei Kirchen- und Katholikentagen schon im Vorfeld immer wieder viele Schwierigkeiten gemacht.« Diese Bewegung wird also durch die beiden großen traditionellen Volkskirchen überhaupt nicht befeuert.
Solche Beurteilung wird wohl bei vielen Linken auf extreme Skepsis stoßen, die offenkundig größere Befürchtungen hegen, was die gesellschaftliche, in diesem Fall reaktionäre Formierungskraft des Christentums angeht, als das (linke) Christentum selbst. Wir wissen zwar, dass in den USA der protestantische Fundamentalismus eine erhebliche politische Rolle spielt, gleichwohl kann man von dort nicht zwangsläufig auf bundesrepublikanische Verhältnisse schließen. Aber die Entscheidung über diese Frage müsste man wohl den IdeologietheoretikerInnen und SozialwissenschaftlerInnen anvertrauen.
Eine andere Frage betrifft die Linke selbst: Wenn in Teilen der Protestbewegung mit dem Slogan »Mein Leben gehört mir« und mit dem Recht auf körperliche Selbstbestimmung mobilisiert wird, so ist dies eine erhebliche Ungleichzeitigkeit. War dieser Slogan in den 70er Jahren noch emanzipativ, so setzt er sich heute in dieser emblematischen Form der Gefahr aus, die herrschenden Formen von Körperpolitik, Biomacht und Subjektivierung zu verdoppeln. »Mein Leben gehört mir« könnte ganz ungewollt die letzte Form von Internalisierung des Privateigentums an (Re-)Produktionsmitteln, also am eigenen Körper sein. Der Körper würde so in letzter Instanz zum Privateigentum, wie wir wissen auch zur Ware (Organtransplantation, Organhandel). Das Leben, der Körper, ist der neoliberalen Kapitallogik nicht dadurch entzogen, dass man ihn der individuellen Selbstbestimmung rückübereignen will.
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