Wo man arbeitet, um sich von der Freizeit zu erholen

Nirgendwo in Australien gibt es mehr Europa als in Melbourne

  • Roland Mischke
  • Lesedauer: 5 Min.

Böse Zungen behaupten, die Australier würden arbeiten, um sich von ihren Freizeitaktivitäten zu erholen. In Melbourne sieht es tatsächlich danach aus. Wie kaum anderswo auf der Welt wird hier die freie Zeit hoch eingestuft. Arbeitstage werden pünktlich beendet, Büros früh geschlossen, der Feierabend- und Wochenendrhythmus wird von Spiel und Sport, Barbecues und Partys bestimmt. Es heißt, nirgendwo seien die Menschen so entspannt wie in Melbourne.

Selbst an Werktagen merkt man das. Viele Einwohner der Stadt fahren mit dem Rad ins Büro, Angestellte joggen in der Mittagspause, sonnen sich oder flirten im Café. Am Freitag sieht man Kunden mit Surfbrettern unterm Arm in Supermärkten und Banken. Die Stadt mit ihren 4,1 Millionen Bewohnern erscheint ungestresst. Take it easy! ist oberste Pflicht, herrliche Sommer und milde Winter begünstigen die Freiluftnation. Das ist auch für Besucher äußerst angenehm. Im Dezember beginnt auf der südlichen Halbkugel der Sommer.

In Melbourne war 26 Jahre lang das Nationalparlament zu Hause, bis Canberra 1913 Hauptstadt Australiens wurde. Das prachtvolle Parlamentsgebäude in der Spring Street erinnert an die Zeit. Noch präsentabler ist ein paar Blocks weiter die Town Hall, Sitz des Bürgermeisters. Die weitläufig angelegte Stadt mit vielen Vororten ist vom Fluss Yarra durchspült, der Stadtkern in die Höhe verdichtet, kompakt stemmen sich Hochhäuser empor.

Eines der größten ist ein 300 Meter hoher Apartmentturm mit dem »Eureka Slydeck 88«, der höchsten Aussichtsplattform auf der Südhälfte des Äquators. Nur 40 Sekunden braucht der Lift zum 88. Stockwerk, wo die Besucher auf milchigem gläsernen Boden stehen, der sich langsam dreht. Von oben erfasst der Ausblick das Straßennetz im Schachbrettmuster. Zu erkennen sind prunkvolle viktorianische Bauten, Universität, Theater und Konzerthallen, gerahmt von den bildschönen Mount-Dandenong-Gebirgszügen.

Der Federation Square ist ein großer Platz mit futuristischen Gebäuden, in denen Museen, Kinos und Boutiquen beherbergt sind. Das Areal grenzt an die Flinders Street Station, den 1905 in Betrieb genommenen Bahnhof mit der Prachtfassade im französischen Renaissancestil. Die Melbourner betonen gern, dass ihre Stadt nicht wie Sydney von englischen Sträflingen hochgezogen, sondern um 1840 erbaut wurde, als viele Menschen in der Hoffnung, Gold zu finden hierher kamen. Schon 1956 war die Stadt Gastgeber der Olympischen Sommerspiele.

Bei Kultur, Wissenschaft und Sport ist Melbourne die Nummer eins in Australien. Während man in Sydney in Flip-Flops durch Straßen schlappt, wird in der europäisch geprägten Stadt auf Stil geachtet. Am Morgen sieht man Frauen und Männer in eleganten Kostümen und Anzügen die Collins Street queren, sie sind Straßenbahn gefahren und schlürfen auf dem Weg zu den Büros ihren »flat white«, den Milchkaffee. Die Melbourner tragen gern einheimische Mode, sind stolz darauf, dass es in Australien 80 Modemacher gibt und die meisten ihre Geschäfte in Melbourne haben. Allein im engen Geschäftsviertel drängeln sich 50 Boutiquen. 40 Prozent der Stadtbewohner sind Einwanderer aus 140 Nationen, in zehn Jahren wird die Fünf-Millionen-Grenze wohl überschritten werden.

Melbourne City lädt mit unzähligen kleinen Läden, Märkten, Arkaden, Outlets und Hinterhofgeschäften zum Shoppen ein. Auf dem South Melbourne Market gibt es neben frischen Lebensmitteln Stände für lokale Designer. Hier finden sich bezahlbare Unikate. Versteckte Läden gibt es im Labyrinth der Straßen und Arkaden. Der Aufenthalt in der viktorianischen Royal Arcade - Passagenarchitektur des 19. Jahrhunderts - ist ein ästhetischer Genuss.

Schräg und abwechslungsreich ist das multikulturelle Fitzroy-Viertel mit der Brunswick, Smith und Gertrude Street im Norden von Inner Melbourne. Hier reihen sich pittoreske Buch- und Kramläden, sind Eigenmarken der Subkultur zu besichtigen und warten Weinhandlungen, Kleinbrauereien und Cafés auf Gäste. Zudem ist die Gegend das Revier der Graffitikünstler, die zu den besten der Welt gehören. Das Viertel bietet exakt das Gefühl, das der auf Sicherheit aber auch etwas Kick bedachte Urlauber zu schätzen weiß.

Melbourne hat viele grüne Oasen. In den Königlichen Botanischen Gärten wachsen 50 000 Pflanzen in 10 000 verschiedenen Arten aus aller Welt. Der Königliche Park ist mit 170 Hektar Melbournes größte grüne Wiese und hat auch noch Platz für den Zoo mit rund 300 Tierarten. Die Anlage Carlton Gardens mit Springbrunnen und Seen wurde für die Weltausstellung 1880 konzipiert und ist UNESCO-Weltkulturerbe.

Nach St. Kilda, dem beliebten Badeort, fährt man eine halbe Stunde mit der Tram. In der dortigen Acland St. gibt es die besten Kuchen und Kaffees Australiens - behaupten zumindest die Melbourner. Danach kann man an einem zehn Kilometer langen Strand spazieren gehen. Es empfiehlt sich auch eine Fahrradtour am Yarra River entlang.

Das kulinarische Melbourne ist im Spitzensegment angesiedelt. Fleisch, Fisch, vegan-vegetarische Küche, Dutzende Biersorten und Weine sind im Angebot. Die australische Küche hat Wurzeln in der englischen, hat sich aber seit den 1970er Jahren durch den Zuzug von Einwanderern erweitert. Heute köcheln in Melbournes Töpfen Gerichte aus aller Welt. Besonders beliebt aber ist das Barbecue. Das verwundert nicht, denn was würde besser zur Freizeit passen, die den Melbournern ja über alles geht.

Infos

Deutschsprachige Websites: www.visitmelbourne.com/de.info.de/vic

de.visitmelbourne.com/insicertipps

Sehr zu empfehlen:
Hidden Secrets Tours, mehrstündige Führung, 95 Australische Dollar (ca. 65 €), www.hiddensecretstours.au

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