Hilferuf und Protest zugleich
In Berlin-Mitte kapituliert wieder ein Jugendamt vor der Arbeitsbelastung
Jetzt ist es wieder so weit. Die Arbeitsbelastung für Mitarbeiter des Jugendamtes Berlin-Mitte hat die Grenze des Ertragbaren überschritten. Ab kommendem Montag werden die etwa 50 MitarbeiterInnen des Regionalen Sozialpädagogischen Dienstes (RSD), die sich vor allem mit Kinderschutzfällen beschäftigen, keine Sprechzeiten mehr anbieten. Bereits 2013 hingen hier zum Zeichen der Kapitulation weiße Bettlaken aus den Fenstern. Die vier RSD-Abteilungen im Bezirk werden geschlossen und das bis Freitag. Die Maßnahme ist Hilferuf und Protest zugleich. »Die Regionalen Dienste im Jugendamt Mitte sind personell unterausgestattet. Sie sind nicht mehr ausreichend in der Lage, ihre Aufgaben qualitativ und quantitativ zu erfüllen«, heißt es auf feuerroten Infozetteln, die in der RSD-Abteilung Grüntaler Straße in Wedding hängen. Ein Brandbrief an den Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD) soll folgen.
In der Schließwoche beschäftigen sich die MitarbeiterInnen ausschließlich mit der Abarbeitung liegen gebliebener Fälle. Erledigen Schreiben ans Familiengericht, erstellen Hilfepläne oder Kostenübernahmebescheide. Hausbesuche, die Teilnahme an Schulhilfekonferenzen oder Gerichtsverhandlungen: All das muss ausfallen. Lediglich einen Notdienst wird es in der Woche noch geben.
»Jeder Kollege bearbeitet im Schnitt 70 bis 80 Fälle«, sagt Kerstin Kubisch-Piesk, RSD-Regionalleiterin und Gewerkschaftsmitglied. Die Erziehungsgewerkschaft GEW fordert schon seit Langem, dass ein Mitarbeiter nicht mehr als 28 Familien betreuen sollte. Hinzu kommt, dass allein in den RSD-Abteilungen in Mitte etwa vier Stellen unbesetzt sind. Viele KollegInnen entscheiden, sich beruflich weiterentwickeln zu wollen und wechseln den Job oder sind krankgeschrieben. Fast die Hälfte der Berufsanfänger im RSD hört nach einem Jahr wieder auf. In einer Analyse des Senats und der Bezirksstadträte heißt es, die berufsvorbereitenden Praktika im Studiengang Soziale Arbeit würden nicht angemessen auf die Arbeit im RSD vorbereiten.
Aus derselben Analyse geht hervor, dass in allen Berliner Jugendämtern zwischen 2011 und Mitte letzten Jahres 124 Stellen nicht besetzt waren, inklusive der Jugendschutzabteilungen. »Zum Stichtag 30. Juni 2014 lag die Zahl der besetzten Stellen um rund 200 unter der Zahl der finanzierten Stellen laut Stellenplan«, heißt es da. »Die jüngeren Kollegen gehen kaputt, weil sie ihrem eigenen Anspruch nicht genügen können«, sagt Kubisch-Piesk. Die Bewerberzahlen seien in den letzten zwei Jahren radikal zurückgegangen. Auf eine ausgeschriebene Stelle kommen mittlerweile nur noch 20 Interessenten, vor einem Jahr waren es immerhin noch 40. Zudem habe es mittlerweile einen kompletten Generationswechsel gegeben. Ältere, erfahrenere Kollegen sind heiß begehrt, denn einen neuen Kollegen einzuarbeiten kostet viel Zeit, die im RSD niemand mehr hat.
Erst im März hatte Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) einen Maßnahmekatalog vorgestellt, der sicherstellen sollte, dass die Jugendschutzabteilungen der Bezirksämter gute Arbeit leisten. In dem Katalog war vereinbart worden, dass eine MitarbeiterIn nicht mehr als 65 Fälle betreuen soll, kommen dann noch Termine für die Familienberatung hinzu, sollten es sogar nicht mehr als 43 Fälle sein. Bereits 2011 hatte es vom Bildungssenat Empfehlungen zu Personalstandards gegeben, die der Rat der Bürgermeister jedoch mit der Begründung ablehnte, sich nicht in die bezirkliche Gestaltungsfreiheit reinreden lassen zu wollen. In der Folge wurden gar keine verbindlichen Standards festgelegt.
In den momentanen Haushaltsverhandlungen sind 75 neue Stellen vorgesehen, die über den Fonds »Wachsende Stadt« finanziert werden sollen, davon 70 im Bereich Hilfen zur Erziehung, also auch dem RSD. Ausgemacht waren im Maßnahmekatalog 160 zusätzliche Stellen – zu den 75 zugesagten.
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