Reise in eine unbekannte Welt
Auf der »Liberation Route Europe« durch die Niederlande
Rotterdam ist anders. Anders als die benachbarten niederländischen Städte, anders vor allem als die pittoreske Hauptstadt Amsterdam mit ihren Bürgerhäusern und historischen Grachten. Das liegt am Zweiten Weltkrieg, an der Bombardierung durch die deutsche Luftwaffe im Mai 1940, aber auch an den städtebaulichen Konzepten der Zeit danach. Rotterdam ist seither ein architektonisches Experimentierfeld.
Der Überfall der Nazis zielte auf den größten Hafen Westeuropas. Das Zentrum von Rotterdam wurde im Bombenhagel und den nachfolgenden Bränden fast vollständig zerstört. Bei einem Spaziergang durch die Innenstadt kann man noch heute am Alter der Gebäude genau erkennen, wo das Feuer wütete. Seit ein paar Jahren markieren in den Boden eingelassene Leuchten nachts die Umrisse des zerstörten Areals.
Lange Zeit indes stand in Rotterdam nicht das Gedenken an den Krieg im Vordergrund, sondern der radikale Neuanfang. In den 1950er Jahren bauten die Planer eine autogerechte Stadt, die Wohnen und Arbeiten trennte. Zwischen Hauptbahnhof und Neuer Maas entstand eine Fußgängerzone, die erster ihre Art in Europa. Ein Touristenmagnet aber war die zweitgrößte Stadt der Niederlande nie. Sie galt als unattraktiv und stand stets im Schatten von Amsterdam, Delft oder Leiden.
In den letzten Jahrzehnten hat sich das geändert. Rotterdam entwickelte sich zu einer amerikanisch anmutenden Metropole - und zu einem Mekka des zeitgenössischen Bauens. Vor allem die Erasmusbrücke mit dem Wilhelminapier am südlichen Ende, der Leuvehaven mit seinen avantgardistischen Hochhäusern und der zum Szeneviertel avancierte ehemalige Rotlichtbezirk Katendrecht symbolisieren den Wandel.
Im Schnellboot schippern wir mit einem Nahverkehrsticket über die Maas in Richtung Nordsee. Auf einer ehemaligen Werft, inzwischen eine Art Kreativkai, läuft die Ausstellung »De Aanval« (Der Angriff), die die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg umfassend dokumentiert.
Rotterdam ist der Startpunkt unserer Reise auf der »Liberation Route Europe« und gehört doch eigentlich gar nicht dazu. Denn der Kern dieses sich ständig erweiternden Projektes ist die Befreiung von der Naziherrschaft in den Jahren 1944 und 1945. Die Route verbindet die wichtigsten Regionen, die die westlichen Alliierten von Südengland aus nach der Landung in der Normandie über Frankreich, Belgien und die Niederlande nach Berlin durchquerten. Unterwegs können die Reisenden Museen und Gedenkstätten besuchen, an Hunderten von Orten Filme anschauen oder an Audiospots Originaltöne hören. Träger der »Liberation Route Europe« ist eine niederländische Stiftung, die mit Regierungsorganisationen, Universitäten, Museen, Veteranenverbänden und Reiseveranstaltern in Westeuropa zusammenarbeitet.
In Nieuwdorp auf Seeland treffen wir Kees Straas. In ehrenamtlicher Kleinarbeit haben er und seine Helfer hier ein Befreiungsmuseum aufgebaut. Die Ausstellung in einem alten Bauernhof erinnert an die in Deutschland weitgehend unbekannte Schlacht um die Schelde. In den erbitterten Auseinandersetzungen Ende 1944, in denen weite Landstriche durch Bombenangriffe auf Deiche überflutet wurden, ging es um den Wasserweg zum belgischen Hafen Antwerpen. Auf die Idee mit dem Museum sei er gekommen, erzählt Straas, »als ich zufällig den Helm eines kanadischen Soldaten und wenig später das Kreuz für einen Toten entdeckte«.
In dieser Region kämpften vor allem Einheiten aus Kanada. Die Verbindung zu dem nordamerikanischen Staat war im Zweiten Weltkrieg besonders eng, Teile des niederländischen Königshauses lebten damals in Ottawa. Die Kleinstadt Bergen op Zoom, wo sich der strategisch wichtige »Brabantse Wal« an der Eingangspforte zu den seeländischen Inseln und Halbinseln leicht erhebt, veranstaltet in Erinnerung daran regelmäßige »Canadays« - eine aus deutscher Perspektive skurril anmutende Mischung aus militärischer Zeremonie und Volksfest.
Wir fahren 100 Kilometer weiter östlich in das Landesinnere, in die Provinzhauptstadt ’s-Hertogenbosch, die die Niederländer kurz Den Bosch nennen. Hier liegt eine Gedenkstätte, die neben dem jüdischen Durchgangslager Westerbork eine der dunkelsten Seiten der niederländischen Geschichte im Zweiten Weltkrieg beleuchtet. Das Camp Vught, in dem die Nationalsozialisten und einheimische Kollaborateure 50 000 Widerstandskämpfer und 12 000 Juden interniert hatten, wurde als erstes westeuropäisches Konzentrationslager im Oktober 1944 befreit.
Ein historisches Foto der Ausstellung zeigt einen blonden Jungen am Strand eines Sees in der unmittelbaren Umgebung, im Hintergrund sind weitere Badegäste zu sehen. »Vermutlich handelt es sich um ein deutsches Kind, und die anderen Personen sind SS-Offiziere und ihre Frauen«, sagt Jeroen von den Eijnde. Der Direktor der Gedenkstätte in Vught wuchs in der Nähe des Lagers auf. »Noch in den 60er Jahren hieß diese Badestelle bei den Einwohnern von Den Bosch ›der deutsche Strand‹«, erinnert er sich. Das Baden im See war dem Wachpersonal vorbehalten, Einheimische hatten während der Besatzung keinen Zutritt.
Die bekannteste Schlacht aus dem Zweiten Weltkrieg in den Niederlanden ist die um Arnheim. Im Herbst 1944 versuchten alliierte Truppen, von Eindhoven aus nach Norden vorzurücken und die wichtige Rheinbrücke von Arnheim einzunehmen. Von hier sind es nur wenige Kilometer bis ins deutsche Emmerich; der Weg in das kriegswichtige Ruhrgebiet wäre frei gewesen. Doch die 1977 verfilmte »Operation Market Garden« scheiterte. Das verzögerte das Ende des Zweiten Weltkriegs um ein halbes Jahr, was Millionen weitere Opfer auf beiden Seiten kostete.
Das »Airborne Museum« von Oosterbeek, untergebracht in der Villa Hartenstein in einem bürgerlichen Vorort von Arnheim, dokumentiert diesen Kampf umfassend. Britische und polnische Fallschirmjäger landeten zu Tausenden in der Umgebung, verzeichneten anfangs auch militärische Erfolge, unterschätzten aber die deutsche Gegenwehr. Der Wehrmacht war es gelungen, SS-Divisionen aus der Schelderegion rechtzeitig zurückzuziehen. Diese verstärkten die Verbände am Niederrhein und verteidigten ihre Position. Nach wochenlangen Kämpfen mussten sich die Alliierten in das befreite Nimwegen zurückziehen.
Die Stadt Arnheim wurde vollständig evakuiert und von den Deutschen geplündert. Sie schafften alles, was irgendwie wertvoll oder brauchbar war, ins »Reich«. Nach der Befreiung, die erst im April 1945 gelang, fanden die zurückgekehrten Bewohner nur noch Ruinen vor. Eine Entschädigung hat der deutsche Staat den Bewohnern von Arnheim für diesen gigantischen Raubzug nie gezahlt.
Jedes Jahr im September wird in Arnheim in einer touristisch beworbenen Großveranstaltung der legendären Schlacht gedacht. Nahezu jedes Geschäft in der Innenstadt ist dann geschmückt mit britischen Fahnen, die Niederländer danken ihren Befreiern mit Parade, Konzert und Feuerwerk über dem Rhein. Die wenigen noch lebenden Veteranen werden im Rollstuhl durch die Straßen geschoben; ihre Söhne und Enkel fahren, von Passanten bejubelt, im olivgrünen Jeep über die historischen Schlachtrouten.
In Deutschland hingegen kommt die Kooperation mit den deutschen Partnern der »Liberation Route Europe« eher schleppend voran. Eine Ausstellung im Eifeldörfchen Schmidt erinnerte im Februar 2015 an die Schlacht im Hürtgenwald vor über siebzig Jahren. In den USA gehört die Schlacht im Hürtgenwald, bei der es Ende 1944 zu schweren und verlustreichen Kämpfen zwischen der US Army die Wehrmacht kam, zum Schulstoff. Deutsche wissen fast nichts über diesen, neben den Seelower Höhen im Oderbruch, wichtigsten Schauplatz des Zweiten Weltkriegs auf deutschem Boden.
So verwundert es nicht, dass die Ausstellung, die nach der Eifel im Berliner Alliierten-Museum in Dahlem gezeigt wurde, nur auf sehr mäßiges Besucherinteresse stieß. Die zahlreich übrig gebliebenen, nicht verkauften Kataloge wurden schließlich dahin geleitet, wo die Nachfrage offenbar größer war: zu einer Ausstellung im niederländischen Roermond.
Allgemeine touristische Infos zu den Niederlanden:
www.holland.com/de
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!