Und das nennt sich Gentrifizierung
»Pizzeria Anarchia« in der Neuköllner Oper hält sich mit Hohn und Spott nicht zurück
An Alltagskomik fehlt es schon beim Blick ins Internet auf die am 28. Juli 2014 in Wien filmisch dokumentierte Räumung der »Pizzeria Anarchia« nicht - mit gepanzertem Gerät und abschließendem Flötenspiel. Es bot sich angesichts der realen »Show« mit 1700 Einsatzkräften gegen ein Häuflein Punker die Steilvorlage für eine Parodie. Nach der Idee und Konzeption des Österreichers Thomas Desi und des an der Neuköllner Oper heimischen Bernhard Glocksin entstand das internationale Musiktanztheater »Pizzeria Anarchia« unter Regie und mit der Choreografie von der das italienische Balleto Civile anführenden Michela Lucenti.
Musik, Tanz, Sprache und Gesang verbindend, wird das Geschehene künstlerisch in der Ausstattung von Chiara Defant zur Posse. Das Bühnenbild ist ulkig, die Kostüme verstärken den Spott. Links und rechts der Bühne ist jeweils ein zweietagiges Gerüst aufgebaut, unten jeweils mit einem Musiker versehen. Auf der einen Seite begleitet Florian Bergmann mit Altsaxophon und Bassklarinette im Erdgeschoss das Stück, auf der anderen Alberto Cavenati an der E-Gitarre.
Über ihnen sieht man zwei alte Damen »wohnen«, beziehungsweise Benoit Pitre als den sich ankleidenden und gleichfalls einsingenden Polizeichef. Der ist nämlich als passionierter Mozart-Liebhaber ausgesprochen kulturvoll. Später wird er mit dem gefangen genommenen Punkerhund ein Duett aus »Don Giovanni« einüben wollen. Seine Untergebenen sprechen von Mozart-Karaoke. »Altmieter«, »Altmütter« baut Benoit seine Stimme in Form bringend ein. Er steigt auch mal aus dem Stück aus, um sich zu beschweren, dass immer der Bariton als Bösewicht herhalten muss. Sein Part ist es außerdem, Aussagen aus Franz Kafkas Parabel »Vor dem Gesetz« ins Spiel zu bringen.
Der »böse« Punkerhund fühlt sich berufen, die ganze Geschichte über den Hausbesitzer zu verbreiten, der zwei alte Schwestern aus seiner Immobilie vertreiben will. Um nicht als Bösewicht dazustehen, ertüftelte er eine subtile Variante. Eine Gruppe Punker soll die beiden alten Schachteln mit nonkonformistischer Lebensart rausekeln. Das funktioniert nicht, denn die beiden Alten freunden sich mit den Punkern an.
Die 70-minütige übermütig-freche Inszenierung über Hausbesetzer und -besitzer arbeitet nicht auf eine Pointe hin. Sie besteht aus solchen. Mitunter ganz kurz. Beispielsweise, wenn sich der Hausbesitzer - im wahrsten Sinne des Wortes an seiner Immobilie hängend - von den Ereignissen geschüttelt zornig windet.
Durchaus raue Sitten widerspiegelnd, überzeugt der Tanz in schöner Ausdrucksstärke. Michela Lucenti, die als Tänzerin bei Tina Bausch arbeitete, choreografierte exakt. Das im Berliner Tanzleben derzeit so verbreitete Introvertierte kommt nicht vor. Vielmehr erobert sich Empfinden gut erkennbar körperlich Raum. Widerspenstigkeit wie Anschmiegsamkeit werden deutlich. Die Rolle des Punkerhundes ist mit besonders vielen Facetten versehen.
Ein Pizza verteilender Berliner Bär spielt auch eine Rolle. Selbstverständlich weiß er längst um die Begleiterscheinungen der Gentrifizierung. Hier scheint er fleißig dazuzulernen. Anfangs noch etwas unsicher, bedient er schließlich einen kleinen Wasserwerfer mit wachsendem Eifer.
Das Balletto Civile, zur Zeit Artist in Residence am Teatro de la Tosse Genua, zeigte vor einiger Zeit in Neukölln bereits »Brennero Chrash«. Die aktuelle Inszenierung ist einen Zahn schärfer, weil sie sich in der Parodie leichtfüßig über alles erhebt.
Es wird noch authentischer, wenn am 6. November Neuköllner zusammen mit den Italienern zum Gentrifizierungsthema agieren. Mit dem Festival-Quickie »Südwind« verspricht die Neuköllner Oper zusammen mit dem benachbarten Heimathafen Neukölln »frischen Wind aus der Südkurve Europas«. Griechen und Spanier gesellen sich an zwei Tagen zu den Italienern. Neben ihren Vorstellungen bieten sie Workshops an, bei denen jedermann willkommen ist.
Nächste Vorstellungen vom 22.10. bis zum 5.11., 20 Uhr. Festival »Südwind«: 6. und 7.11. - Neuköllner Oper, Karl-Marx-Str. 131, Tel.: (030) 68 89 07 77, www.neukoellneroper.de
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.