Erdogans Griff um die Türkei wird fester

Düstere Zeiten für Demokratie und Frieden. Ismail Küpeli über den Wahlausgang und die Perspektiven der linken Opposition

  • Ismail Küpeli
  • Lesedauer: 4 Min.

Die türkischen Parlamentswahlen waren ein großer Erfolg für die Regierungspartei AKP, die über 312 Sitze im Parlament erobern konnte und so eine komfortable Mehrheit für eine alleinige Regierung besitzt. Mit 49 Prozent erreicht die islamisch-konservative Partei wieder das Niveau ihrer Stimmenanteile der Wahlen von 2011. Am 7. Juni hatte sie nur rund 40 Prozent erhalten und damit die Regierungsmehrheit verloren.

Allerdings reichen die 49 Prozent nicht dafür, die Türkei zu einem Präsidialsystems umzugestalten, weil es dafür eine verfassungsändernde Mehrheit bedarf. Dies zu verhindern, dafür hat vor allem die linke HDP gesorgt, die zwar 2 Prozentpunkte verloren hat aber dennoch die 10-Prozent-Wahlhürde knacken konnte. Ebenfalls verloren hat die MHP, nämlich um 4 Prozent, sie landet bei 12 Prozent. Die größte Oppositionspartei CHP bleibt stabil bei 25 Prozent.

Auffällig ist, dass keine Wahlumfrage im Vorfeld der Abstimmung einen solchen Sieg der AKP vorhergesagt hat. In allen Prognosen lag die Partei des autoritär agierenden Staatspräsidenten Erdogan unterhalb der 45-Prozent-Marke - meist sogar nur zwischen 40 und 42 Prozent. Jetzt wird zu untersuchen sein, woher diese Diskrepanz kommt.

Eine mögliche und aufgrund der zahlreichen Meldungen über Zwischenfälle bei den Wahlen naheliegende Erklärung wäre: massive Wahlfälschung zugunsten der AKP. Insbesondere in den kurdischen Gebieten haben Soldaten und Polizisten die WählerInnen bei der Stimmenabgabe gehindert oder die Wahlfreiheit verletzt, indem etwa Bürger gezwungen wurden, ihre Stimmen »offen« abzugeben - also auch unter den Blicken der Sicherheitskräfte.

WahlbeobachterInnen, die eigentlich solche Manipulationen verhindern sollten, wurden vielfach nicht in die Stimmlokale gelassen oder sogar festgenommen. Ebenso wurden WahlhelferInnen und Wahlzeugen von der linken HDP an der Arbeit gehindert. So kann man sicherlich nicht von freien und fairen Wahlen in der Türkei sprechen, insbesondere nicht im Osten des Landes.

Allerdings ist es fraglich, ob diese Zwischenfälle alleine die Wahlergebnisse, vor allem den Vorsprung der AKP erklären können. Die entscheidenden Fälschungen wurden auch nicht bei der Stimmabgabe, sondern bei der Stimmenauszählung befürchtet. Derzeit ist nicht absehbar, wie weit die Vorwürfe der Manipulation zutreffen - und ob sie jemals aufgeklärt werden können.

Eine zweite und eher schmerzhafte Erklärung für den Ausgang dieser politischen Schicksalswahl ist: Die AKP war mit ihrer Erpressung der türkischen WählerInnen erfolgreich. Vor der Alternative gestellt, entweder der AKP zu einer Mehrheit zu verhelfen oder weiter in einer chaotischen Sicherheitslage zu leben, die von der Erdogan-Partei und ihrer Strategie mitverursacht wurde, haben möglicherweise viele WählerInnen beeinflusst: auf Kosten der Demokratie. Auch, weil es viele BürgerInnen der Opposition nicht zutrauen, die Situation besser in den Griff zu bekommen und vor allem friedlicher zu gestalten.

Wenn dies zutrifft, wäre der Kriegskurs der AKP-Regierung und ihre »Strategie der Spannung«, die seit den Wahlen vom Juni verfolgt wurden, von den türkischen WählerInnen mit einer Mehrheit für die AKP belohnt wurden. Diese Erklärung wäre auch deswegen erschreckend, weil zukünftige türkische Regierungen ebenfalls auf einen ähnlichen autoritären, antiparlamentarischen und auf Repression setzenden Kurs setzen könnten, wenn sie ihre Mehrheiten in Gefahr sehen. Dies sind düstere Aussichten für Demokratie und Frieden in der Türkei.

In den nächsten Wochen wird zu erleben sein, wie die Opposition mit den Wahlergebnissen umgeht und welchen Kurs die AKP-Regierung angesichts des Sieges verfolgt, der das erklärte Ziel einer Umgestaltung der Türkei in eine Präsidialherrschaft Erdogans zunächst dennoch verfehlt hat.

Paradoxerweise könnte der Erfolg der AKP sogar zur Eindämmung des Bürgerkrieges in der Türkei führen, den die PKK auf der einen Seite und die Regierung auf der anderen Seite gegen Linke, Kurden, sogar gegen die Medien führt. Denn: Zunächst scheint die AKP dieses militärische Vorgehen als Teil einer »Strategie der Spannung« nicht länger zu benötigen. Auch die Repression gegenüber der Opposition könnte wieder zurückgefahren werden - die AKP sieht sich wieder fest im Sattel, die Opposition im Parlament kann von ihr schlichtweg ignoriert werden.

Erdogans AKP jedenfalls hat ihren Fuß wieder in der Tür zur absoluten Macht bekommen: Sie kann die Zeit bis zu den nächsten Wahlen dazu nutzen, weiter die staatlichen Organe und öffentlichen Institutionen unter ihrer Kontrolle zu bringen. Der Griff Erdogans um die Türkei wird fester.

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