Hat mein Arzt versagt?
Fragen & Antworten: Was ist ein Behandlungsfehler? Wie müssen Patienten bei einem Verdacht vorgehen?
Die Schätzungen über Behandlungsfehler gehen weit auseinander. Laut Bundesregierung reichen sie von 40 000 bis 170 000 Behandlungsfehlern in allen Bereichen des Gesundheitssystems jährlich. Am stärksten stehen die Probleme in den Kliniken im Fokus.
Worin liegen die größten Ursachen für Behandlungsfehler?
Die Unabhängige Patientenberatung Deutschland (UPD) sieht Patienten im Gesundheitssystem oftmals alleingelassen. »Viele Kranke trauen sich nicht, bei Meinungsverschiedenheiten mit Krankenkassen oder Ärzten ihre Belange zu vertreten«, sagte Geschäftsführerin Stephanie Jahn bei der Vorstellung des Jahresberichts im September 2015 in Berlin.
Für den »Patientenbericht 2015« hat die Unabhängige Patientenberatung Deutschland über 80 000 Gespräche zwischen April und März 2015 ausgewertet.
Den Bürgern machten dabei vor allem Probleme mit den Krankenkassen zu schaffen. So gehe es in mehr als jedem dritten Beratungsgespräch der Unabhängigen Patientenberatung darum, welche Leistungen durch die Krankenkassen abgedeckt sind. Und: »Was ist, wenn die Kasse meinen Antrag ablehnt?«, so Stephanie Jahn.
Wichtigster Aspekt sei dabei mit großem Abstand das Krankengeld. Ein Teil der Patienten beklagte, dass sie trotz Krankschreibung kein Krankengeld bekämen.
In jedem fünften Beratungsgespräch geht es dem Bericht zufolge um die Rechte von Patienten. Insbesondere die Frage, ob Patienten nach einer mutmaßlichen Fehlbehandlung ihre Krankenakte einsehen dürfen, spiele eine große Rolle. »Nach dem Patientenrechtegesetz steht jedem diese Möglichkeit zu. Trotzdem wird sie von Arztpraxen und Krankenhäusern immer wieder verwehrt«, so die UPD-Geschäftsführerin.
Über finanzielle Fragen, nämlich Zuzahlungen und Geldforderungen von Kassen und Ärzten, werde bei jeder neunten Beratung gesprochen. Dabei seien Schulden bei der Krankenkasse das Hauptthema. Gerade Selbstständige, die freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung sind, würden darunter leiden, berichtete Jahn. epd/nd
Unaufmerksamkeit, zu viel Stress auf der Station, zu wenig Personal - in der Organisation liegen oft die Hauptquellen von Problemen. So auch bei einem Beispiel, das in dem anonymen Meldesystem von einem Arzt angeführt wurde. Ein Mann sollte geröntgt werden, fiel aber einfach vom Tisch - und brach sich einen Arm.
Bei einem Patienten mit einem komplizierten Knochenbruch sollte das Metall wieder entfernt werden. Das OP-Team verließ sich auf die zur Verfügung stehenden Standardwerkzeuge. Stattdessen war ein Spezialwerkzeug nötig - das zwar auch da war, aber nicht steril. Es musste sterilisiert werden, während der Patient mit geöffnetem Körper in der Narkose lag - eine Stunde länger als geplant.
In einem anderen Fall sollte ein junger Mann in Narkose versetzt werden, doch die Medikamente reichten nicht. Zweimal wurden weitere Mittel verabreicht, doch die Narkose war immer noch nicht tief genug. Erst danach wurde den Ärzten klar, dass sie anfangs ein verdünntes Mittel verabreicht hatten. Die Ampulle war falsch beschriftet.
Gutachter im Auftrag der Krankenkassen kamen allein im vergangenen Jahr in 155 Fällen zum Ergebnis, dass Patienten an den Folgen eines Fehlers starben. Nach Schätzungen sollen jedes Jahr Tausende wegen Fehlern und Problemen bei Behandlungen sterben. Laut Aktionsbündnis Patientensicherheit wird jedes Jahr bis zu 3000 Mal Operationsmaterial im Körper vergessen.
Was ist als ein Behandlungsfehler anzusehen?
Juristisch gesehen schließen Arzt und Patient bei einer ärztlichen Behandlung einen Vertrag. Das bedeutet: Der Arzt schuldet dem Patienten eine ordnungsgemäße Behandlung, die den geltenden medizinischen Standards zum Zeitpunkt der Behandlung entspricht.
Ein Behandlungsfehler liegt dann vor, wenn der Arzt diese Standards - vorsätzlich oder fahrlässig - nicht erfüllt. Dabei gibt es verschiedene Arten von ärztlichem Versagen:
Diagnoseirrtum: Hier erkennt der Mediziner Symptome nicht oder interpretiert sie und medizinische Befunde falsch.
Verfehlte Wahl der Behandlungsmethode: Wählt der Arzt eine Behandlungsart, die nicht dem aktuellen medizinischen Wissensstand entspricht, liegt ein Fall von verfehlter Wahl der Behandlungsmethode vor. Wählt er eine riskantere Alternativmethode, muss dieser Schritt durch eine günstigere Prognose gerechtfertigt sein.
Übernahmeverschulden: Dieser Behandlungsfehler liegt dann vor, wenn ein Arzt eine Behandlung durchführt, für die er nicht die erforderliche Ausstattung oder die notwendigen Kenntnisse/Fähigkeiten hat.
Sicherungsaufklärung: In diesem Fall wird der Patient vom Arzt nicht, falsch, unverständlich oder unvollständig darüber aufgeklärt, wie er an der Heilung mitwirken kann; etwa durch die korrekte Einnahme von Medikamenten oder regelmäßige Nachuntersuchungen.
Aufklärung: Hier gilt es, drei Fälle zu unterscheiden:
1. Der Arzt klärt den Patienten nicht, falsch, unverständlich oder unvollständig über die Dringlichkeit und Schwere des Eingriffs und die damit verbundenen Risiken auf.
2. Der Arzt klärt den Patienten nicht, falsch, unverständlich oder unvollständig darüber auf, dass alternative Behandlungsmethoden mit anderen Risiken oder Erfolgschancen verbunden sind.
3. Der Arzt klärt den Patienten nicht rechtzeitig auf, so dass dieser nicht ausreichend Zeit hat, Für und Wider einer Methode abzuwägen.
Organisationsversagen: Ein Behandlungsfehler dieser Art kann geltend gemacht werden, wenn es zu einem organisatorischen Fehler in der Arztpraxis oder der Klinik gekommen ist.
Was ist dem Patienten in solchen Fällen zu raten?
Generell sollten Patienten dem behandelnden Mediziner während der Konsultationen Fragen zur Medikation stellen oder sich aktiv nach alternativen Behandlungsmethoden erkundigen - auch wenn dem Patienten einzelne Fragen peinlich erscheinen oder der Arzt unter Zeitdruck zu stehen scheint. So könnten einige Versäumnisse oder Missverständnisse von vorn herein ausgeglichen werden.
Bei einem Verdacht ist es ganz wichtig, Beweise zusammenzutragen. Grundsätzlich liegt die Beweislast beim Patienten. Er muss das Fehlverhalten des Mediziners belegen und darstellen, dass der ihm entstandene Schaden darauf zurückzuführen ist.
Wie sollte der Patient beim Verdacht auf einen Behandlungsfehler vorgehen?
Behandlungsunterlagen vom Arzt anfordern. Auf die Einsicht seiner Patientenakte hat laut Patientenrechtegesetz jeder Anspruch - zumindest, wenn aus therapeutischer Sicht nichts dagegen spricht.
Mit Fotos und Gedächtnisprotokollen selbst dokumentieren, welcher körperliche Schaden entstanden ist und wie der Verlauf der Behandlung war.
Mögliche Zeugen ausfindig machen, zum Beispiel Bettnachbarn im Krankenhaus.
Inwieweit kann der Patient auf die Unterstützung durch die Krankenkasse bauen?
Die gesetzlichen Krankenkassen sind laut Sozialgesetzbuch verpflichtet, Betroffene beim Behandlungsfehler zu beraten. Dieser Anspruch wurde mit dem Patientenrechtegesetz 2013 sogar noch einmal verstärkt.
Vermutet der Patient, dass er Opfer eines Behandlungsfehlers geworden sei, kann er sich meist über ein spezielles Behandlungsfehlertelefon an seine Krankenkasse wenden. Verhärtet sich der Verdacht, sollte man als nächsten Schritt den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) kontaktieren oder sich an spezialisierte Fachanwälte wenden.
Die Krankenkasse übernimmt für die Betroffenen die Kommunikation mit allen Ärzten und stellt die Behandlungsunterlagen zusammen. Das Gutachten des MDK wird den Versicherten kostenlos zur Verfügung gestellt, damit sie dieses Gutachten für ihre Schmerzensgeldforderungen entsprechend einsetzen können, ohne ein eigenes Gutachten in Auftrag geben zu müssen. nd
Zusammengestellt nach Informationen von Maria Boysen, Expertin für Behandlungsfehler bei der Siemens-Betriebskrankenkasse
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