Medizinische Zustände sind unhaltbar

Berliner Ärzteverband fordert, Flüchtlinge hauptamtlich durch Gesundheitsdienst zu versorgen

  • Martin Kröger
  • Lesedauer: 3 Min.
Fast 800 Ärzte haben sich nach einem Aufruf freiwillig in der Hauptstadt gemeldet, um Asylsuchenden zu helfen. Das ehrenamtliche Engagement kann das staatliche Versagen in diesem Bereich aber nur unzureichend abmildern.

Täglich erreichen den Marburger Bund Hilferufe. Bei dem Berufsverband melden sich Mediziner, die vor Ort in den Flüchtlingsunterkünften in der Hauptstadt praktizieren und Asylsuchende medizinisch versorgen. Das ehrenamtliche Engagement erfolgt auf Eigeninitiative. »Die Ärzte nehmen das selbst in die Hand«, sagt der Vorsitzende des Landesverbandes des Marburger Bundes in Berlin-Brandenburg, Peter Bobbert. Eine zentrale Koordinierung gibt es nicht. Rund 800 Ärzte haben sich nach einem Aufruf im August freiwillig gemeldet. »Da die staatlichen Institutionen ihrer Aufgabe immer noch nicht ausreichend nachkommen, muss die Berliner Ärzteschaft auf freiwilliger Basis unterstützen, um die größte Not zu mildern«, sagt Bobbert.

Seit Monaten kritisieren Wohlfahrtsverbände, Berliner Ärztekammer, Willkommensinitiativen und der Flüchtlingsrat in drastischen Worten die katastrophale Lage und die fehlende medizinische Versorgung für Flüchtlinge, auf die diese unabhängig vom formalen Akt der Registrierung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz einen rechtlichen Anspruch haben.

Geändert hat sich durch die Kritik indes nur wenig. Vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) beispielsweise, wo die Situation seit langem als besonders prekär galt, haben seit Beginn dieser Woche die Universitätsmediziner von der Charité die Versorgung übernommen. »Wir sind zuversichtlich, dass wir jetzt die medizinische Situation der Flüchtlinge mit vereinten Kräften nachhaltig verbessern können«, sagt der Vorstandsvorsitzende der Charité, Karl Max Einhäupl. Die Universitätsklinik teilte dem »nd« auf Nachfrage mit, dass es die Leistungen erst einmal in Vorleistung übernimmt, es aber die Zusage des Senats gebe, dass die Klinik das Geld zurückbekommen soll.

Doch auch wenn sich die Situation durch den Einsatz der Charité vor dem LAGeSo tatsächlich verbessern sollte, sieht der Marburger Bund keinen Grund zur Entwarnung. Im Gegenteil: »Die Lage in den einzelnen Notunterkünften wird sich dramatisch zuspitzen«, sagt Peter Bobbert voraus. Viele Flüchtlinge wüssten gar nicht, welche Ansprüche sie haben. Ein großes Problem stellt zudem das Ausstellen der sogenannten grünen Gesundheitskarte durch das LAGeSo dar. Diese sollte eigentlich jedes Quartal ausgegeben werden, was aufgrund der Überlastung der Mitarbeiter aber nicht funktioniert. »Das LAGeSo hat ein Problem, diesen formalen Akt durchzuführen«, sagt Bobbert. Der Landeschef der Ärztegewerkschaft fordert deshalb, die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte für Asylsuchende in Berlin vorzuziehen – am besten auf ab sofort. Laut einer Sprecherin von Sozialsenator Mario Czaja (CDU) will Berlin die Chipkarte zu Beginn des neuen Jahres einführen. Die Fraktionschefin der Grünen im Abgeordnetenhaus, Ramona Pop, erklärte am Dienstag, sie verstehe nicht, warum Czaja die Gesundheitskarte bis heute blockiere: »Das Lageso würde deutlich entlastet, zudem könnte Berlin Kosten in Millionenhöhe einsparen.«

Entbürokratisieren und besser informieren sind aus Sicht des Marburger Bundes allerdings nur so etwas wie notwendige Ad-hoc-Maßnahmen. Für eine grundsätzliche Verbesserung müsste die Erst- und Basisversorgung durch eine hauptamtliche Versorgung sichergestellt werden. Konkret schwebt dem Berufsverband eine Stärkung des öffentlichen Gesundheitsdienstes in der Stadt vor. Dieser müsste besser finanziell ausgestattet und auch personell aufgestockt werden. »Wir müssen aus der Akutversorgung der Flüchtlinge herauskommen«, sagt der der Hauptgeschäftsführer des Marburger Bundes, Armin Ehl. Allein in Berlin gibt es demnach einen Mehrbedarf von rund 50 Stellen, die in den Gesundheitsämtern entstehen sollten. Um die nötigen Mediziner zu bekommen, müsste sich aus Sicht der Ärztegewerkschaft aber auch dringend etwas an der untertariflichen Bezahlung ändern. Weil die kommunalen Arbeitgeber die Stellen im öffentlichen Gesundheitsdienst zur Verwaltung und nicht zu den Krankenhäusern zählen, verdient beispielsweise ein Facharzt 400 Euro weniger als sein Kollege im Krankenhaus.

Besonders wichtig ist die Stärkung der öffentlichen Gesundheitsversorgung in Bezug auf den Flüchtlingszuzug vor allem wegen der Vorsorgeuntersuchungen und der Kontrolle der Hygienerichtlinien in den Unterkünften.

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