Freiwillige Erschöpfung?
Unterstützer von Flüchtlingen entlang der Balkanroute sind am Ende ihrer Kräfte. Ein Erfahrungsbericht des Berliner Piraten Fabio Reinhardt
Nach lediglich fünf Stunden Schlaf auf der Couch eines Freundes in Wien wache ich auf und fühle mich wie gerädert. Die Reise hat ihre Spuren hinterlassen. Von den Gedanken um meinen eigenen Zustand wandern meine Gedanken schnell zu den Geflüchteten und Helfenden, die ich in den vergangenen Wochen traf.
Vierzehn Tage lang habe ich zusammen mit meinem Reisebegleiter Chucky Goldstein auf der griechischen Insel Lesbos und auf den verschiedenen Stationen der Balkanroute verbracht, Geflüchtete von ihrem Aussteigen aus dem Schlauchboot über mehrere Länder bis nach Österreich begleitet, mit Helfenden und Organisationen vor Ort gesprochen, geschrieben, gebloggt und Videos aufgezeichnet.
Insgesamt habe ich auf der zehntägigen Reise 4.000 Reisekilometer mit Flugzeug, Auto, Fähre, Bahn und Bus zurückgelegt und dabei sechs Landesgrenzen überschritten - meist tatsächlich mit dem Rucksack zu Fuß. Dabei habe ich mich von Spezialeinheiten verhören, mir mein Handy klauen lassen und mir immer wieder Stress an den Grenzen eingefangen.
Im Vergleich zu dem, was die Geflüchteten, die wir begleitet haben, auf der gleichen Route erdulden müssen, ist das jedoch kaum etwas. Wir hatten auf der Reise keine Verletzungen oder Verwundungen zu erleiden und uns auch nicht um kleine Kinder oder andere Schutzbedürftige zu kümmern. Und wir hatten zumindest gelegentlich die Möglichkeit, uns auszuruhen von den Strapazen unseren Trips.
Die Geflüchteten allerdings hatten auf ihrer Route kaum die Möglichkeit, sich mal eben abzusetzen und auszuruhen - aus logistischen oder monetären Gründen oder weil es von den jeweiligen Regierungen nicht gewollt ist. Die ständigen Nachrichten über geplante Grenzschließungen, anstehende Gesetzesverschärfungen und geplante Abschiebungen nach Afghanistan waren zudem nicht die beste Voraussetzung, um einfach mal Pause zu machen.
Neben den anstrengenden Busfahrten über Tag und Nacht hatten die Geflüchteten mit vielen Problemen zu kämpfen. Wo Freiwillige ihnen etwas Warmes anbieten wollten, wurden sie von staatlichen oder anderen Autoritäten daran gehindert, wie ich es in Slowenien erlebte. Hygiene ist nur eingeschränkt möglich, Informationen fließen spärlich, Gerüchte kursieren, Taxifahrer fahren sie für viel Geld im Kreis.
Misstrauen gegenüber staatlichen Autoritäten und Mitreisenden, mangelnde Kommunikationsmöglichkeiten, Isolation, lange Fußmärsche und Misshandlung durch Repressionsorgane tun das ihrige, um eine ständige Angespanntheit, Nervosität, Unruhe sowie körperliche, geistige und seelische Dauererschöpfung zu produzieren. Ich bin immer noch extrem beeindruckt davon, wie cool und entspannt ich viele Geflüchtete auf dieser Höllentour erlebt habe, wie freundlich, offen und kommunikationsbereit sich die meisten uns gegenüber zeigten.
Dass die Reise von Europas Außengrenzen nicht noch schlimmer und traumatisierender verläuft, liegt dabei nicht so sehr an den staatlichen Behörden. Der Großteil der Unterstützungsarbeit wird vom UNHCR, anderen Hilfsorganisationen und privat organisierten Freiwilligen übernommen. Die sehr professionellen tschechischen Helfenden, die ich an der serbisch-kroatischen Grenze traf, hatten dort sogar fast alle Staatsaufgaben, inklusive des Platzmanagements, übernommen. Bei diesen Helfenden habe ich viel Selbstausbeutung, ständige Anspannung, wenig Schlaf und das Gehen an die eigenen Grenzen wahrgenommen.
So traf ich an der Nordküste von Lesbos, in dem kleinen Städtchen Skala Sikamineas, den Rettungsschwimmer Markus Kauer und andere Mitglieder des Schweizer Flüchtlingshilfe-Teams rund um Michael Räber. Sie berichteten mit dem starken Bedürfnis zu Helfen, aber auch von dem schlechten Gewissen, mehr tun zu müssen, das sich bei jeder Auszeit sofort einstellt. Ich hörte Berichte über den ständigen Erregungs-, Erschöpfungs- und Anspannungszustand und von dem omnipräsenten Gefühl, immer irgendwo irgendwem nicht helfen zu können.
Mein Eindruck war: Bei fast allen kommt die eigene Ver- und Aufarbeitung des Erlebten zu kurz. Mit dem Berliner Dauerhelfer Mats Thunemann sprach ich in der serbischen Grenzstadt Preshevo. Auf der Seite »Grenzwerte« berichtet er von seiner Reise und schildert auch Repression und Misshandlung der ungarischen Polizei. Vor lauter Arbeit kam er bald immer seltener zum bloggen und damit auch zum verarbeiten. Das müssen die Freiwilligen dann im Zweifel zuhause nachholen. Wenn sie die Zeit dazu finden. Psychologische Betreuung brauchen nicht nur für die Geflüchteten, die auf der Überfahrt durch die Ägäis Schreckliches erleben. Auch für die Helfenden, die bei der Betreuung der im Schlamm von Moria Wartenden oder in den slowenischen Grenzlagern Gedemütigten ihre eigene Verzweiflung und Hilflosigkeit jeden Tag neu demonstriert bekommen, ist eine professionelle Unterstützung dringend notwendig.
Dabei ist Helfen vor Ort nicht das einzige, was die Freiwilligen fordert. Nach der Arbeit am Strand und in Camps kommt die Nachbearbeitung. Der Kontakt der Flüchtlinge zur Heimat will gehalten werden. Die Rechenschaftsberichte für die Spendenden und neue Spendenaufrufe müssen geschrieben werden, die An- und Abfahrten neu Ankommender gebucht werden. Dazu der ständige Eingang und die Verarbeitung von Informationen, um stets auf dem neuesten Stand zu sein, der Austausch mit anderen Organisationen, der Kontakt zum UNHCR, zu den Behörden und die Sisyphosarbeit, die damit einhergeht.
Diejenigen, die sich für ihre Arbeit unbezahlt frei nehmen, müssen zusätzlich noch die Tatsache verdrängen, dass ihnen durch ihr Engagement ein Einkommensverlust entsteht. Ein paar Wochen lassen sich die Gedanken daran erfolgreich verdrängen. Doch dann stellt sich der Gedanke immer deutlicher ein, dass sie für ihr bis an die persönlichen Limits gehende aufopferungsvolle Unterstützungsarbeit nach ihrer Rückkehr mit persönlichen Problemen, finanziellen Einbußen und Einschränkung der eigenen Lebensqualität belohnt werden werden.
Die meisten Freiwilligen würden den Einsatz wieder wagen, und sie tun es tatsächlich. Der Winter steht vor der Tür, weder die Lage in den Herkunftsstaaten noch in den türkischen und libanesischen Lagern wird sich absehbar verbessern. Und Diktator Erdogan wird auch nach der Wahl kein Interesse haben, sein schönstes und einzig funktionierendes EU-Visa-Erpressungsmittel aus der Hand zu geben und Fluchtverhinderung und Korruptionsbekämpfung effektiv umzusetzen oder sich an einer Deeskalation in der Region zu beteiligen. So haben viele der Unermüdlichen, die ich unterwegs traf, schon ihren Winterurlaub verplant. Um wieder zu helfen, retten, bis an den Rand der Erschöpfung zu arbeiten.
Ich liege immer noch auf der Couch in Wien und komme mir bei dem Gedanken an das, was diese Menschen leisten, schamhaft entspannt und erholt vor. Ich schiebe das aufkommende schlechte Gewissen, dass ich selbst viel mehr hätte tun und helfen müssen, und zugleich mit mehr Menschen sprechen, Geschichten schreiben und berichten müssen, beiseite. Die Gesichter derer, denen ich auf meiner Reise begegnete, werden mich dabei begleiten.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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