Der Gute Mensch vom Spreebogen

Otto Köhler über die Flüchtlingskrise in der Union - und was die mit einem Stück von Bertolt Brecht zu tun hat

  • Otto Köhler
  • Lesedauer: 4 Min.

Vor mehr als einem halben Jahrhundert sah ich - zum Schwindelkurs (fünf Ostmark gegen eine Westmark) - im Berliner Ensemble Bertolt Brechts »Guten Menschen von Sezuan«. Jetzt wird er wieder gegeben - nicht nur am alten Ort, sondern zugleich auch am Spreebogen, im Bundeskanzleramt.

Die Götter, die bei Brecht unsere Erde auf der Suche nach guten Menschen inspizieren, fanden allein Shen Te, die einzige, die ihnen Quartier gewährte. Sie hatte bis zum Erscheinen der Überirdischen den Beruf einer Prostituierten ausgeübt. Das kann man von Angela Merkel nicht sagen. Sie hat lediglich - mit Sinn für Stil - dem damaligen Chef der Deutschen Bank für dessen Geburtstagsparty samt Essen und Bedienung ihr Bundeskanzleramt am Spreebogen zur freien Verfügung gestellt: Joseph Ackermann, kurz nachdem der Victory-Bezwinger der deutschen Justiz gegen ein Trinkgeld von 3,2 Millionen freigesprochen worden war. So richtete sie den Bankier wieder auf, den schon Zweifel an unserer Grundordnung bedrängt hatten: »Dies ist das einzige Land, in dem diejenigen, die Erfolg haben und Werte schaffen, deswegen vor Gericht gestellt werden.« Seit Merkels guter Tat für den Ackermann bedienen sich Banken und Konzerne in diesem Land noch ungenierter.

»Wir schaffen es!« Anfang September rief Angela Merkel jenes Sommermärchen aus, das aus der brutalen Hegemonin Europas die »Mutter Teresa der Flüchtlinge« machte. Der Gute Mensch vom Spreebogen nahm das große Versprechen bis Redaktionsschluss dieser nd-Ausgabe nicht zurück.

Shen Te konnte nur Gutes tun, wenn sie sich anschließend verkleidete und als ihr »Vetter« Shui Ta alles wieder zurücknahm. So machte es am Samstag Shui Ta de Maizière: »Die Zahl der Flüchtlinge ist so hoch, wir können nicht noch ein Vielfaches an Familienmitgliedern aufnehmen.«

Er putscht nicht gegen die Kanzlerin, wie Grüne wähnen, er sorgt dafür, dass sie im Amt bleibt. Auch wenn »die Linke nicht weiß, was die Rechte tut«, wie der tatsächlich ahnungslose Sigmar Gabriel glaubt.

Die Kanzlerin Shen Te braucht das, sie könnte nicht weiterregieren, wenn sie sich nicht durch Shui Ta de Maizière korrigieren dürfte. Und darum hat sie ihm am Montag den Rücken gestärkt, er genieße ihr volles Vertrauen. Kunststück, Shen Te muss nur ihr Kostüm wechseln und Shui Tas Anzug überziehen. Sie verkündet die grenzenlose Willkommenskultur für alle Flüchtlinge - er nimmt alles zurück, was der großen konservativen, nein fremdenfeindlichen Meute in der Union missfällt. Es gilt doch nur jene Alternative für Deutschland auszustechen, die aus Helmut Kohls Allianz für Deutschland entstanden ist.

Kurz, was Angela Merkel als Guter Mensch Shen Te verspricht, widerruft sie als Shui Ta im Anzug de Maizières. Von Obergrenzen hat sie nie gesprochen, doch der Innenminister stellt klar, Frauen und Kinder anerkannter Asylbewerber dürfen nicht nachkommen. Richtig, Frauen und Kinder haben weder vor russischen noch vor US-Bomben etwas zu befürchten und schon gar von den Waffen der Bürgerkriegsparteien. Weder Assads Truppen noch die IS-Miliz brachten je eine Frau, ein Kind um. Dessen ist der Berliner Shui Ta sicher. Und will darum Syrern nur noch einen kurzfristigen, lediglich ein Jahr gültigen Asylstatus geben - ohne Familiennachzug.

Und die Afghanen, denen es gelang, nach Deutschland zu fliehen, will de Maizière zurück in ihr Land schicken. Auch diejenigen, die für das deutsche Militär als Übersetzer tätig waren. Stattdessen will man an den Hindukusch wieder mehr Bundeswehr kommandieren, um die hierzulande abgewiesenen Flüchtlinge gegen die Taliban zu schützen. Der Krieg wird fortgesetzt, um unser Land vor Flüchtlingen zu retten.

Eines vergisst Thomas de Maizière: Er hat noch als Verteidigungsminister den Obersten Georg Klein für seine Verdienste zum General befördert. Doch General Klein dürfte in der Bundesrepublik Deutschland nicht einen einzigen Afghanen, der als Flüchtling gekommen ist, problemlos totschießen. Bei Kundus aber war es ihm erlaubt - vielleicht sogar geboten, mit dem bloßen Befehl »Vernichten!« über 120 afghanische Zivilisten straflos um ihr Leben zu bringen. Er ist darum auf de Maizières Anordnung im Verteidigungsministerium für Nachwuchsausbildung zuständig.

Gibt es irgendwo im Land einen Mann, der besser für Merkel ihren Shui Ta darstellen könnte als de Maizière?

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