Die Pariser lassen sich nicht einschüchtern
Blutige Attentate stärken Zusammengehörigkeitsgefühl vieler Franzosen
Paris an diesem Sonntagmorgen ist stiller als gewöhnlich. Nur wenige Menschen sind auf den Straßen. Im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand hat die Polizeipräfektur geraten, möglichst zu Hause zu bleiben. Zu den vielen aus diesem Grunde annullierten Veranstaltungen des Wochenendes gehört auch die Konferenz über einen »Plan B für Europa«. Die Märkte, die sonst vielerorts am Sonntagvormittag für lebhaftes Treiben sorgen, sind abgesagt. In der Metro und auf den Bahnhöfen sieht man deutlich mehr Militärpatrouillen als gewöhnlich. Im 10. und 11. Arrondissement, wo am Freitagabend die Mordanschläge stattfanden, kommen viele Menschen zu den Tatorten und legen vor den betroffenen Restaurants und vor dem Konzertsaal ››Le Bataclan‹‹ Blumen nieder oder zünden Kerzen an.
Es ist schwer vorstellbar, wie hier am Freitagabend Dutzende Menschen innerhalb weniger Minuten ihr Leben verloren haben. »Es war ein milder Abend und wir saßen draußen auf der Terrasse, als die ersten Schüsse fielen«, erinnert sich Louis. »Wir hielten das erst für Knallkörper, doch dann sahen wir einen Mann mit einer Maschinenpistole, die auf uns gerichtet war, und wir ließen uns schnell unter den Tisch fallen. Sekunden wurden zur Unendlichkeit. Als es vorbei war, sah ich neben mir eine tot über dem Tisch zusammengebrochene Frau. Neben ihrem Kopf stand noch ihr Glas Bier.« Die Attentäter zogen eine blutige Spur durch das Viertel: vor dem Restaurant ››Le Petit Cambodge‹‹ ließen sie zwölf Tote zurück, vor dem ››Casa Nostra‹‹ fünf und vor zwei Restaurants in der Rue Charonne 19. Auf der Terrasse der ››Brasserie Voltaire‹‹ sprengte sich ein Attentäter selbst in die Luft, wobei es nur Verletzte, aber keine Toten gab.
Die meisten Opfer, mehr als 80 Tote, zählte man im Konzertsaal ››Le Bataclan‹‹, der von drei Attentätern mit den Rufen »Allahu Akbar« und »Das ist die Antwort für eure Bomben in Syrien und Irak« gestürmt worden war. Hier mussten die 1500 Zuschauer drei Stunden lang ausharren und miterleben, wie die Täter mit Maschinenpistolensalven in die Menge schossen oder einzelne Personen mit gezielten Schüssen ermordeten. Denis Plaud berichtet: »Da wir die Täter im Schummerlicht nicht gleich gesehen haben, hielten wir die ersten Schüsse für Knallkörper, doch dann sahen wir Menschen zusammensacken, mit Blut auf dem Hemd.« Benjamin Cazenoves, einer der Zuschauer, konnte aus dem Saal twittern: »Ich bin verletzt. Die Polizei muss schnell kommen. Sonst werden wir hier alle erschossen. Einer nach dem anderen.«
Dass das 10. und 11. Arrondissement von der Mordbande heimgesucht wurde, war sicher kein Zufall. Hier gibt es besonders viele Restaurants, Theater und Musiksäle. »Sündenpfuhl« nannte das der »Islamische Staat« in seinem Bekennerschreiben. »Dieses Viertel ist vitaler Ausdruck unserer Freude am Leben«, so die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo. »Das ist diesen Fanatikern ein Dorn im Auge. Aber die Botschaft der Pariser ist: Wir sind solidarisch mit den Opfern und wir lassen uns nicht einschüchtern.«
Dass mit der Anschlagserie erstmals in Europa Selbstmordattentäter in Aktion traten, sei eine »neue Stufe der Bedrohung«, schätzt der auf Terrorakte spezialisierte ehemalige Untersuchungsrichter Marc Trévidic ein. »Seit dem Mordanschlag auf die Zeitung ›Charly Hebdo‹ im Januar waren wir uns im Klaren, dass sich Monat um Monat die Gefahr eines größerer Anschlags auf ›weiche‹ Ziele vergrößert. Doch die kann man unmöglich alle bewachen. Hier sind wir auf die Wachsamkeit aller angewiesen.«
Der Islamexperte Professor Gilles Kepel von der Politikhochschule Sciences Po meint, neu sei auch, dass die Anschläge nicht gegen Einrichtungen des Staates oder gegen die Sicherheitskräfte gerichtet sind, sondern »wahllos gegen unschuldige Zivilisten«. Damit könnten die islamistischen Fanatiker aber das Gegenteil von dem erreichen, was sie wollen. »Sie streben danach, die Muslime gegen alle anderen Franzosen zu indoktrinieren und in Stellung zu bringen und einen Bürgerkrieg zu provozieren. Doch tatsächlich bewirken sie eher Ablehnung ihrer Taten und ein Zusammengehörigkeitsgefühl unter Franzosen aller Konfessionen«, ist Professor Kepel überzeugt.
Die meisten Politiker rufen wie Präsident Hollande zur Einheit der Nation auf, um dem Terrorismus entschieden die Stirn zu bieten. Der Linke Jean-Luc Mélenchon meint: »In dieser Lage müssen wir alles beiseite schieben, was uns trennt.« Dagegen fordert der rechte Oppositionsführer Nicolas Sarkozy provokativ, die Regierung müsse »eine entschiedene Wende in ihrer Innen- und Außenpolitik vollziehen«. Nur wenn sie »energische Sicherheitsvorkehrungen« trifft, werde sie die Rechte an ihrer Seite finden. Außenpolitisch gebiete die Stunde, den Draht zu Putin wieder aufzunehmen und in Syrien nicht nur auf militärische Aktionen zu setzen, sondern gleichzeitig nach einer politischen Lösung zu suchen, in die man auch Assad einbeziehen müsse.
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