Zur falschen Zeit am falschen Ort
Gerüchte und Maschinengewehre: Wie am Dienstagabend das Stadion in Hannover evakuiert wurde
Es wurde nicht gespielt. Als Bild für eine Niederlage taugt Hannover gerade deshalb. Am Mittwochmorgen, 15 Stunden nach der Absage des Fußballländerspiels zwischen Deutschland und den Niederlanden wegen Hinweisen auf einen möglichen Terroranschlag, beendet die Polizei ihren Einsatz am Stadion. Uniformen, Blaulicht und Sirenen zeugen aber noch immer vom Ausnahmezustand in der niedersächsischen Landeshauptstadt. »Wir sind an verschiedenen Orten im Einsatz.« Mehr ist aus der Polizeidirektion Hannover am Tag nach der Evakuierung nicht zu erfahren. Die Unwissenheit macht die Rückkehr zum Alltag nicht leichter.
Dienstagabend, 20 Uhr: Köche von Cateringunternehmen laufen in ihren Schürzen durch die Nacht. Sanitäter könnten keine Erste Hilfe leisten, weil sie ihre Notfallkoffer nicht dabei haben. Journalisten geben Texte per Telefon durch, ihre Laptops mussten sie stehen lassen: Die Evakuierung des Stadions am Dienstagabend auf Anweisung von Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hatte schnell gehen müssen. Wer Taschen dabei hatte, musste sie an den Ausgängen kontrollieren lassen. Herausfahrende Fahrzeuge werden durchsucht. Hinein kommt niemand mehr, nur die Sicherheitskräfte - aber auch die werden geprüft.
»Ein Ordner kam auf uns zugerannt, fragte nach unseren Eintrittskarten, nahm sie uns ab und sagte, dass wir das Stadion verlassen sollen.« Erstaunlich ruhig schildern zwei junge Fußballfans, die gerade den Sicherheitsring rund um die Arena passiert haben, ihr Länderspielerlebnis: »Kurz danach haben wir vermummte Polizisten mit schusssicheren Westen und MP im Anschlag durch das Stadion laufen sehen. Dann kam die Durchsage, dass alle unverzüglich das Gelände verlassen müssen.« Ihre Gefühlslage können die beiden nicht beschreiben, als Antwort bleibt ein Schulterzucken.
Ungewissheit und Verunsicherung plagen an diesem Dienstagabend wohl jeden in Hannover. Thomas de Maizière kann daran nichts ändern. Zwei Kilometer vom Stadion entfernt gibt der Bundesinnenminister um halb zehn eine eilig einberufene Pressekonferenz im niedersächsischen Ministerium für Inneres und Sport. Seine Worte machen eher Angst: »Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern.« Fest steht nur: Es habe verschiedene Hinweise auf einen geplanten Anschlag gegeben, die sich so sehr verdichtet hätten, dass das Spiel abgesagt werden musste.
Mehr wird auch am Mittwoch nicht bekannt. Hartnäckig hält sich das Gerücht, dass die Hinweise vom französischen Geheimdienst gekommen sein sollen. Aber alle Informationen werden zugunsten der nationalen Sicherheit zurückgehalten. Sprengstoff soll bislang nicht gefunden worden sein. Verhaftungen gab es wohl auch noch nicht. Die Polizei ermittelt weiter, sucht nach Verdächtigen.
»Wir sind nicht von hier«, sagt einer der Polizisten, die das Stadion am Dienstagabend sichern. Fragen zwecklos. Seine Kollegin gibt die Nummer der zuständigen Pressestelle weiter. Sie ist falsch. Die Frau am anderen Ende der Leitung hat die richtige. Diese ist dann eine Stunde lang besetzt. Nachdem endlich jemand abgehoben hat, ist das Gespräch schnell wieder beendet: »Wir können gar nichts sagen.« Weil niemand etwas weiß, bleibt nur der Blick in die sozialen Netzwerke. Aufklärung oder Beruhigung findet man dort auch nicht. Mal soll ein Sprengsatz in einem Krankenwagen direkt vor dem Stadion gefunden worden sein. Andere erzählen von bewaffneten Terroristen, wahlweise aus Afrika oder Irak.
Besonders mulmig macht an diesem Dienstag eine von Tausenden Nachrichten. Laut Hannovers Polizeipräsident Volker Kluwe soll eine »konkrete Gefahrenlage für ganz Hannover« bestehen. Schon bald sind Bahnen und Haltestellen noch leerer als zuvor. Das Konzert von Maceo Parker im Pavillon am Raschplatz wird abgesagt. Die Musik der »Söhne Mannheims« aber läuft in der TUI-Arena, das Konzert wird nur kurz unterbrochen. Unzählig sind dennoch Meldungen über dessen Absage.
Besonders irritierend ist eine andere Nachricht. »Wir prüfen gerade, ob eine kurzfristige Live-Übertragung des Spiels England-Frankreich möglich ist«, twittert das ZDF um 20.25 Uhr. Hauptsache, der Ball rollt! Nicht erst jetzt stellt sich das unangenehme Gefühl ein, dass dieses Motto nach den Terroranschlägen vom Freitag in Paris auch ein Beweggrund für die geplante Austragung der Partie in Hannover gewesen sein könnte. Der überwältigende Tenor aber war, dass das Spiel zwischen Deutschland und den Niederlanden unbedingt stattfinden müsse - als Zeichen gegen Gewalt und Terrorismus, als Symbol der Solidarität. Aber welch besseren Ort als das Londoner Wembleystadion hätte es am Dienstagabend dafür geben können? Bewegend sind die Bilder von dort: Über 70 000 Menschen sangen die Marseillaise. Wie viel beeindruckender wäre dieser Abend gewesen, wenn der Deutsche Fußball-Bund, wenn die deutsche Nationalmannschaft, wenn deutsche Politiker genau dort mitgesungen hätten?
Die Marseillaise erklingt auch in Hannover. Ein einsamer Trompeter steht im Park neben dem Stadion. Vielleicht ist er herübergekommen vom Nordufer des Maschsees. Dorthin zogen die rund 1000 Menschen vom Trammplatz, die mit einer Lichterkette der Opfer von Paris gedacht haben. Zwei Fußballfans lauschen der Melodie. Sie tragen zwei Herzen bei sich. Auf einem steht »Je suis Paris«, das andere trägt die Tricolore. All das zwischen Blaulicht und Uniformen - eine Szene der Niederlage.
Die Frage, worum es in Hannover eigentlich ging, wird mit dem Mittwoch noch unbequemer. Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen berichtet, dass es schon in den vergangenen Tagen eine Reihe von Hinweisen gegeben habe. Trotzdem garantierten im Vorfeld alle Beteiligten bis zuletzt absolute Sicherheit. Dieses erneuten Beweises, wie angreifbar und verletzlich unsere Gesellschaft ist, hätte es nicht bedurft. Nach einer Nacht voller Angst in Paris war die erste Reaktion der Nationalmannschaft und von Bundestrainer Joachim Löw, nicht in Hannover spielen zu wollen. Eine verständliche und durchaus angemessene Form des Trauerns. Nun spricht der kommissarische DFB-Präsident Reinhard Rauball von notwendiger psychologischer Unterstützung für die Spieler. Und noch am Dienstagabend sagt er auf der Pressekonferenz tatsächlich, dass sich alle »auf ein tolles Fußballspiel gefreut« hätten. Thomas de Maizière sitzt neben ihm und nickt.
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