Aus der Nische ins Repertoire
Seit 25 Jahren spürt »musica reanimata« die Stücke NS-verfolgter Komponisten auf
Nach 1933 brachten die Nationalsozialisten große Teile des Musiklebens zum Erliegen. Viele Komponisten, meist jüdischer Herkunft, wurden zur Emigration gezwungen oder in Lagern umgebracht; ihre Werke gerieten in Vergessenheit. Dieses dunkle Kapitel der Musikgeschichte bringt der Förderverein »musica reanimata«, der vor 25 Jahren in Berlin gegründet wurde, wieder ins Licht der Öffentlichkeit.
Auslöser für die Gründung war eine Aufführung von Viktor Ullmanns damals noch gänzlich unbekannter Kammeroper »Der Kaiser von Atlantis« an der Neuköllner Oper. Deren Intendant Winfried Radeke hatte das in Theresienstadt entstandene Stück aufs Programm gesetzt. »Wir waren perplex, dass unter den widrigen Umständen des Sammellagers ein so hochrangiges Werk entstehen konnte«, erinnert sich Radeke. »Nach der Premiere wurde ich wiederholt angesprochen: Man müsse unbedingt einen Verein zur Förderung von Ullmanns Musik gründen.« In einer Pizzeria nahe der Philharmonie hoben dann eine Handvoll Musikwissenschaftler, Musiker und Kritiker den Verein »musica reanimata« aus der Taufe. Der Komponist, Dirigent und Regisseur Winfried Radeke gehört seither zum Vorstand.
Bald offenbarte sich, dass neben Ullmann weitere Komponisten in Theresienstadt aktiv gewesen waren. »Als sich dieses Feld vor mir auftat, war mein erster Eindruck: Die Musikgeschichte muss umgeschrieben werden«, sagt Radeke. »Wir entdeckten da wirklich erstklassige Kompositionen.«
In den Gesprächskonzerten, die meist im Musikclub des Konzerthauses stattfinden, wandte sich der Verein nach und nach auch Komponisten zu, die in anderen Konzentrationslagern starben. Einen weiteren Schwerpunkt bilden Künstler, die in den Untergrund oder aber ins Exil gingen. Zu ihnen gehört auch der weltberühmte Pianist Artur Schnabel. Der jüdische Österreicher lebte mehr als drei Jahrzehnte in Berlin, bis er 1933 erst in die Schweiz und dann nach Amerika zog.
Dass Schnabels in Vergessenheit geratenen Kompositionen mit der Qualität seines Klavierspiels nicht mithalten, offenbarte ein Doppelkonzert im Werner-Otto-Saal des Konzerthauses. Die erste Veranstaltung am Dienstag begann mit dem »Piece in seven movements«, das Schnabel 1937 in Amerika fertigstellte. Interpretiert von dem Pianisten Stefan Litwin, erwies es sich als langatmig schweifend, ohne markante Höhepunkte. Die Atonalität wirkt hier nur vorgetäuscht, da die Musik immer wieder in einen tonalen Gestus verfällt.
Außerdem erklang Schnabels Klavierquintett, das 1918 bei einem Berliner Benefizkonzert für deutsche Kriegsflüchtlinge uraufgeführt wurde. Das monumentale, fast einstündige Stück dockt an die spätromantische Tradition von Strauss an. Doch auch die engagierte Pianistin Irmela Roelcke und das superb spielende Bennewitz Quartett vermochten nicht die Mängel zu überdecken: die kompakte, wenig transparente Instrumentation sowie das zähflüssige, abwechslungsarme Kreiseln des Klangs.
Um einen weiteren komponierenden Musiker wird es im Konzert am 28. Januar gehen: den Geiger Adolf Busch, der sich nach 1933 weigerte, in Deutschland aufzutreten, obwohl er von den Nazis umworben wurde.
Die Arbeit von »musica reanimata« verzahnt Theorie und Praxis, Forschung und Aufführung. Der Verein hat mehrere Symposien veranstaltet und veröffentlicht die Schriftenreihe »Verdrängte Musik«, in der gerade ein Band über die Lieder von Erwin Schulhoff erschienen ist. Seine vielfältige Tätigkeit bestreitet der Verein mit minimalem Budget. »Unser Vorstand arbeitet ehrenamtlich«, sagt Winfried Radeke. »Wir bekommen zwar vom Deutschlandfunk einige Zuschüsse für Konzertmitschnitte. Aber es wird von Jahr zu Jahr schwieriger, Geldgeber zu finden.«
Radeke erzählt da lieber von den Erfolgen des Vereins: »Wir konnten einige Komponisten, die bis vor wenigen Jahren nur Spezialisten kannten, in die Verlagsprogramme und das Repertoire renommierter Ensembles integrieren«, stellt er fest. »Diese Stücke erklingen jetzt nicht mehr nur bei Holocaust-Spezialveranstaltungen, sondern im normalen Konzertbetrieb.«
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.