Sieben Tage, sieben Nächte
Wolfgang Hübner über Schnelligkeit bei Tageszeitungen
Manchmal muss es ja bei der Tageszeitung schnell gehen. Blitzschnell. Wenn am späten Nachmittag unabgesprochen etwas Wichtiges passiert. Als beispielsweise seinerzeit bekannt wurde, dass Oskar Lafontaine nicht mehr SPD-Vorsitzender und Finanzminister ist, blieben bis Redaktionsschluss gut zehn Minuten.
Oder es wird irgendwo ein Flugzeug abgeschossen. Oder ein großer Geist stirbt, ohne auf die Andruckzeiten zu achten. Oder jemand gräbt kurz vor Feierabend eine schwarze Kasse aus. Man sieht schon, es geht meist um unerfreuliche Nachrichten. Davon lebt das Mediengeschäft fast ausschließlich. Da geht schon mal eine zunächst eher unspektakuläre Mitteilung wie diese unter: Weil der Marsmond Phobos sich dem Mars allmählich nähert, wird er irgendwann zerrissen, und die Trümmer werden wohl einen Ring um den Planeten bilden. In 40 Millionen Jahren könnte es soweit sein.
Was bedeutet diese Nachricht journalistisch? Vor allem dies: Zeit, unendlich viel Zeit. 40 Millionen Jahre, da steht das Zeitfenster sperrangelweit offen.
Der Wissenschaftsredakteur hat die Nachricht in der Mappe »Mittelfristig aktuell« abgelegt. Er wird demnächst mal bei Fachleuten ein paar Hintergrundtexte bestellen. Denn es gibt ja viel zu betrachten: Ist der Saturn jetzt beleidigt? Sind Ringe überhaupt noch modern? Was bedeutet das für die nächste Ring-Inszenierung in Bayreuth? Was sagt die Linkspartei dazu? Solche Fragen.
Aus diesen Materialien werden die Layouter in aller Ruhe eine ansehnliche Seite basteln. Und dann liegt die Seite und wartet. Sie wartet auf eine Lücke im Plan. Oder auf das Ereignis selbst. Oder auf den Notfall.
Vorgesetzte verlangen von Redakteuren gerne, für Notfälle immergültige fertige Seiten bereitzuhalten, die jederzeit einsetzbar sind. Das Thema Mars ist dafür ideal geeignet. In ein paar Monaten wird das »neue deutschland« 70 Jahre alt, und wahrscheinlich hat es in diesen 70 Jahren keine einzige Seite gegeben, die immerzu verwendbar gewesen wäre. Bei der Marsseite ist das anders. Sie ist unser Ruhepolster; man kann sie von Generation zu Generation weitergeben, muss sie aber immer wieder in den Wochenplan aufnehmen, damit sie im entscheidenden Moment nicht doch vergessen wird.
Vielleicht geht am Ende alles viel schneller. Vielleicht dauert es mit dem Marsring nicht 40 Millionen Jahre, sondern nur zehn. Oder sogar nur eine. Plötzlich ist der Ring da. In anderen Redaktionen wird dann eine unglaubliche Hektik ausbrechen. Sondersitzungen werden einberufen, Themen geplant, Experten gesucht. Wir aber werden vorbereitet sein. Wir ziehen die fertige Seite heraus und machen uns einen schönen Tag. wh
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