Der Entspannungskünstler
Erik Lesser ist einer der besten deutschen Biathleten, der seine faule Seite nicht verbirgt
In Erik Lessers Biathlonkarriere gibt es ein Erlebnis, das auf den ersten Blick nicht furchtbar aufregend, im Nachhinein aber von großer Tragweite war. Schauplatz war die idyllisch gelegene Arena von Nove Mesto, als finales WM-Rennen stand an diesem 17. Februar 2013 der Massenstart der Männer auf dem Programm. Und ein völlig bedienter Lesser am Start. »Ich dachte mir: Was mach’ ich hier? Ich bin fix und fertig, da geht gar nichts mehr«, erinnert sich der Thüringer. Schuld an seinem traurigen Fitnesszustand in Mährens Wäldern war die Staffel 24 Stunden zuvor.
»Da hatte ich als Schlussläufer so grandios die Silbermedaille verloren, aber trotzdem noch Bronze mit der Mannschaft gewonnen«, erzählt Lesser - dessen fatalistische Grundhaltung beim Schlusstusch der Titelkämpfe sich letztlich als wahrer Segen für ihn entpuppte. Denn, so der 27-Jährige: »Mit dieser Lockerheit sprang der fünfte Platz im Massenstart heraus. So funktioniert das manchmal.« Manchmal oder - wie in seinem Fall seither - immer, zumindest bei Großereignissen.
Gestärkt vom mährischen Erweckungserlebnis holte Lesser ein Jahr später mit Platz zwei über 20 Kilometer die einzige olympische Einzelmedaille des Deutschen Ski-Verbandes. Und weitere 13 Monate später mauserte sich der gebürtige Suhler mit WM-Titeln in Verfolgung und Staffel erneut zum erfolgreichsten deutschen Biathleten.
Seitdem steht Lesser endgültig im Ruf, ein Mann für gewisse Stunden zu sein. »Vielleicht hatte ich einfach Glück«, sinnierte er nach dem ersten WM-Titel in Kontiolahti. Inzwischen ist er nicht mehr ganz so bescheiden, erinnert sich an den speziellen WM-Sonntag in Nove Mesto und überlegt: »Vielleicht habe ich einfach so eine Lockerheit, an das Rennen heranzugehen, während andere die Sache womöglich zu verkrampft gesehen haben.«
Nun startet der Experte für perfektes Timing in Östersund in die neue Saison - mit dem 20 Kilometer langen Einzelwettbewerb, der in Lesser einen seiner rar gesäten Befürworter hat. »Daniel Böhm ist mit mir da einer Meinung. Der Rest denkt eher: Das Einzel kann man auch weglassen«, erzählt Lesser, der aber weiß: »Dieser Wettkampf tut richtig weh. Für mich ist es eine Hassliebe.«
So unverblümt Lesser jedes Thema diskutiert, so offen spricht er über persönliche Schwächen. Dazu zählt sein dezenter Hang zum Couch-Potato. »Ich bin«, gesteht er, »leider ein Typ, der sich sechs Stunden auf dem Wohnzimmersofa vor den Fernseher sitzt und Tour de France guckt. Ich schaue mir auch zwei Stunden lang ein Formel 1-Rennen an, wo nicht viel passiert. Oder ein 50-Kilometer-Rennen bei den Langläufern mit Einzelstart. Das finde ich einfach großartig.«
Der Vorteil: Die Freude an ausgedehnten Wettkämpfen pflegt der Entspannungskünstler unter Deutschlands Biathleten auch im Freien, ist daher erklärter Sympathisant des Klassikers, mit dem die Biathleten am Mittwoch ihr erstes Einzelrennen des Winters bestreiten. »Die Minute Strafzeit hat schon einen gewissen Charme - weil man sich im Laufen nicht ganz so einen Stress machen muss, um jede Sekunde zu fighten«, erklärt er und betont: »Das ist der traditionsreichste Wettkampf, den wir im Biathlon haben. Ich finde es gut, dass man den erhält. Und ich würde es auch begrüßen, wenn man ihn ein-, zweimal mehr im Jahr machen würde.« Zudem ist das Einzel für potenzielle Dopingsünder wegen der besonders hohen Bedeutung der vier Schießeinlagen weniger geeignet.
Das findet auch Erik Lesser, dem das derzeit so virulente Thema Doping ein großer Dorn im Auge ist. »Es ist ganz gut, dass wir im Biathlon noch das Schießen dabei haben. Das ist eine Variable, die man nicht so beeinflussen kann und die bei uns doch viel durcheinander würfelt«, erklärt der Sportler grundsätzlich, gibt angesichts des gewaltigen Dopingskandals in der russischen Leichtathletik jedoch zu bedenken: »Mir kann keiner erzählen, dass diese 1417 Dopingproben, die das Kontrolllabor in Moskau vernichtet haben soll, nur aus der Leichtathletik stammen. Es ist zumindest zu befürchten, dass es noch einige andere Sportarten waren, wo man das gleiche System angewandt hat.«
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