»Ein einfaches Gehalt reicht nicht mehr«

Der linke Soziologe Edgardo Lander über das Erbe der Ära von Hugo Chávez und die aktuellen Probleme in Venezuela

  • Lesedauer: 12 Min.

Wie würden Sie charakterisieren, was in den vergangenen knapp 20 Jahren in Venezuela entstanden ist?

Der sogenannte bolivarische Prozess ab 1999 hatte zwei Eckpfeiler: Einer war die charismatische Führung durch Hugo Chávez, die unglaublich mobilisierend wirkte. Das war sehr wichtig. Für die große Bevölkerungsmehrheit bedeutete das einen Bruch mit einer Gesellschaft ohne Ausweg, eine Welt ohne Horizont. Er schaffte das Gefühl von Führung, Kurswechsel und Transformation. Gleichzeitig versperrte dieser personalisierte Caudillismus aber Alternativen, das heißt Optionen kollektiver Führung. Mit Chávez’ Tod im März 2013 kam das rasch ans Ende.

Der zweite Eckpfeiler dieses Modells war das Erdöl. Die großen Erfolge der Entwicklungen in Venezuela bestehen darin, dass weitreichende Sozialpolitiken betrieben wurden. Im Bildungs-, Gesundheits- und Wohnungsbereich wurden über die sogenannten »Misiones« Verbesserungen für die breite Bevölkerung ermöglicht und der Wohnungsbau intensiviert. Die Mittel der Regierung kamen aus den Exporteinnahmen des Öls.

Venezuela ab 1999 hatte Vorbildcharakter für Bolivien und Ecuador und die dortigen verfassungsgebenden Prozesse. Die Schaffung der Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) waren auch auf Grundlage des Erdöls möglich.

Zum Öl gab es doch keine Alternative.

Kurzfristig sicherlich nicht. Aber der Prozess bestand nicht aus einer grundlegenden und eigentlich notwendigen Veränderung der Produktionsmuster, sondern eben aus einer Verteilung der Ölrente. Es gab keine öffentlichen Investitionen, um den Produktionsapparat umzubauen. Und selbst die verstaatlichten Sektoren wurden eher mit Subventionen gestützt, nicht umgebaut und dadurch wirtschaftlich eher geschwächt. Daher kam es zu einer Verschlechterung vieler öffentlicher Dienstleistungen.

Das Erdöl bestimmte und bestimmt bis heute die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Strukturen, die Art und Weise, wie das Land in den Weltmarkt integriert ist. Diesem »Öl-Sozialismus« wurde buchstäblich der Boden unter den Füßen weggezogen, als die Ölpreise drastisch zurückgingen. Es gibt auch andere Faktoren, aber das Zusammengehen dieser beiden scheint mir zentral, um die aktuelle Krise zu verstehen.

Bis wann gab es Verbesserungen?

Bis vor zwei Jahren gab es eine reale und gefühlte Verbesserung der Lebensbedingungen der ärmeren Bevölkerungsteile. Die öffentlichen Einnahmen haben mit den ansteigenden Ölpreisen drastisch zugenommen und damit auch die Ausgaben und die Zahl der Staatsbediensteten. Die Investitionen im Ölsektor haben zugenommen und der Staat hat dabei unter Chávez wieder eine starke Rolle eingenommen. Für die Investitionen selbst wurde dann China hinzugewonnen.

Bei wem ist der Staat heute verschuldet?

Vor allem bei China. In diesen Jahren wurden etwa 60 Milliarden Dollar Kredit von China gewährt, wovon ein Teil mittelfristig in Erdöl zurückbezahlt wird. Damit wird natürlich ein auf Ressourcen-Extraktion basierendes Entwicklungsmodell festgeschrieben. Venezuela muss mehr Öl produzieren und in der Zukunft generiert ein Teil davon gar keine laufenden Einnahmen mehr.

Beginnt das alles im Jahr 2014?

Viele Linke verorten den Beginn der Krise im Übergang zwischen Chávez und Maduro. Als wenn der aktuelle Präsident das Erbe von Chávez verraten hätte. Diese Position teile ich überhaupt nicht, weil sie ignoriert, dass die strukturellen Probleme ja schon da waren. Der drastische Preisrückgang ab Mitte 2014 hat das natürlich verschärft.

Welche Rolle spielen in diesem Modell und in der aktuellen Krise die fixierten Wechselkurse?

Die rigide Wechselkurspolitik bestand aus der Aufrechterhaltung des Kurses von 6,3 Bolívar für einen Dollar. Das führte zur Akkumulation von Problemen. Die Währung war schon vorher durch die hohen Ölexporte überbewertet. Andere Wirtschaftssektoren waren kaum konkurrenzfähig und deshalb wurden sehr viele Produkte importiert: Lebensmittel, Medikamente, Hygieneprodukte.

In den ersten Jahren der Regierung Chávez gab es eine große Kapitalflucht. Daher wurden 2003 Wechselkurskontrollen eingeführt, die Devisen waren subventioniert und hochgradig bürokratisiert. Kein Wunder: 96 Prozent der Exporteinnahmen kamen aus dem Ölexport und wurden schon deshalb durch den Staat kontrolliert.

Wie man sich leicht vorstellen kann: Diese Form der staatlich-zentralisierten Devisenvergabe wurde zur Quelle von Korruption; die Firmen haben auf die staatlichen Behörden Druck ausgeübt, Devisen zu erhalten. Vor drei oder vier Jahren meinte die Präsidentin der Zentralbank, dass in jenem Jahr 20 Milliarden Dollar der subventionierten Devisen ausbezahlt wurden und man wisse nicht, wo die verblieben sind.

Das ist aber kein neues Phänomen.

In gewisser Weise hat es sich aber dramatisch verschärft. Denn als die Staatseinnahmen sanken wegen der fallenden Ölpreise, die Regierung Geld druckte, die Inflation deshalb und aus anderen Gründen zunahm, hatte das Auswirkungen auf die Überbewertung des Bolívar. Importe wurden noch billiger und der interne Produktionsapparat weiter geschädigt.

Für die Unternehmen, die auf Devisen angewiesen waren, wurde die eigene Planung schwieriger. Sie wussten für ihre internationalen Geschäfte und etwa entsprechende Vorprodukte und Investitionen nicht, ob sie dafür vom Staat Dollar erhalten würden. Diese Entscheidung liegt bei staatlichem Personal. Diese Unsicherheit betrifft ja nicht nur die Privatwirtschaft, sondern auch den öffentlichen Sektor und die solidarische Ökonomie.

Wie hat die Regierung reagiert?

Die Regierung hat gesehen, dass es so nicht weitergeht und so schaffte die Regierung Maduro im Jahr 2013 einen zweiten Wechselkurs. Neben dem fixen Kurs von 6,3 Bolívar zu einem Dollar für die Grundnahrungsmittel und Medikamente wird der zweite für als notwendig erachtete Importe und Auslandsreisen genommen. Er beträgt aktuell 13,5 Bolívar für einen Dollar. Doch auch hier wiederholen sich die Schwächen der langsamen Prozesse, der Kontrolle durch die Funktionäre, die Korruption, fehlende Planungssicherheit. Die Dollar müssen beim Staat beantragt werden, häufig wird das abgelehnt. Beide Wechselkurse sind stark überbewertet. Damit bildet sich ein Parallelmarkt.

Im Februar 2015 wird ein weiterer Wechselkurs eingeführt, um den Devisenmarkt zu flexibilisieren und eben die Parallelmärkte zu bremsen. Er betrug Mitte November fast 200 Bolívar für einen Dollar. Doch weil dieser Wechselkurs mit vielen Res᠆triktionen versehen ist und die derartig zu erhaltenen Dollar nicht allzu viele sind, gibt es einen freien Wechselkurs von über 800 Bolívar. Das hat natürlich kein sehr großes Volumen, aber es wird zum Referenzpunkt.

Wie ist das zu verstehen und wie spüren das die Menschen im Alltag?

Eine Wirtschaft, die derart unstrukturiert ausgerichtet ist, in der es kaum Planungssicherheit gibt, kein Signale für Kosten und Preise, in der der Alltag der meisten Menschen daran ausgerichtet ist, damit umzugehen, kann einfach nicht funktionieren.

In einer Situation, in der die Inflation zunimmt, die Produktion immer stärker zurückgeht und die Regierung immer mehr importiert und zu subventionierten Preisen bereitstellt, bilden sich zum einen mafiöse Netze und zum anderen Netzwerke der einfachen Bevölkerung, um zu überleben. Ein einfaches Gehalt reicht inzwischen nicht mehr, um sich mit grundlegenden Gütern zu versorgen.

In den vergangenen beiden Jahren ist ein sehr großer und relevanter neuer Wirtschaftssektor entstanden. Die Produkte werden zwar geliefert, oft aber zurückgehalten und tauchen zu vielfach höheren Preisen auf informellen Märkten wieder auf. Dass es heute in Venezuela immer noch keinen Hunger gibt, hängt auch damit zusammen, dass es diesen neuen Kreislauf gibt und dass Leute ihre normale Erwerbsarbeit aufgeben, um in diesen Sektoren zu arbeiten.

Es gibt in vielen Familien eine Arbeitsteilung, sich an verschiedenen Schlangen anzustellen, wo es gerade etwas zu kaufen gibt. Man verbringt schon mal fünf Stunden in einer Schlange. Oder man kauft die Sachen eben viel teurer über einen der Parallelmärkte.

Wo wäre anzusetzen?

Solange der Wechselkurs nicht verändert wird, kommen wir aus diesem Zyklus nicht heraus. Erst dann können andere Wirtschaftspolitiken greifen. Aber es sind auch die Subventionen. Nehmen wir das Benzin in Venezuela, das nicht nur gratis ist, sondern mehr als gratis. Die staatliche Ölfirma PDVSA liefert den Tankstellen das Benzin umsonst und die Tankstellen erhalten für ihre Kosten noch einmal extra Geld. Auch hier werden jährlich zwischen 15 und 18 Milliarden Dollar ausgegeben. Die Fischereiflotten Venezuelas haben kostenloses Benzin an Bord, das sie auf dem Meer verkaufen und damit wesentlich mehr Geschäfte machen als mit dem Fischfang.

Kommen wir zu einem anderen wichtigen Thema. Was hat die Regierung von Nicolás Maduro dazu veranlasst, Ende August die Grenze zu Kolumbien zu schließen?

Aus meiner Sicht gibt es dafür zwei Gründe. Die eben beschriebenen Dynamiken führen zu Schmuggel in großem Stil. Im Fall des Benzins ist der Preisunterschied etwa 60 zu eins - und das an einer offenen Grenze und an der Millionen von Menschen leben, die sich völlig selbstverständlich in beiden Ländern bewegen. Überlegen Sie mal einen solchen Unterschied an der Grenze zwischen Deutschland und Frankreich.

Der Güterhandel ist inzwischen wegen der Preisunterschiede sogar viel wichtiger als der Drogenhandel. Man kauft die subventionierten Produkte in Venezuela, verkauft sie in Kolumbien viel teurer in Pesos, tauscht diese bei freier Konvertibilität in Dollar und bekommt im freien Markt enorm viel Bolívar. Das beschleunigt sich und ist nicht kontrollierbar.

Doch damit kommen wir zum zweiten Punkt. Warum wurde die Grenze zu diesem Zeitpunkt geschlossen? Eine Grenze, die ja eher eine willkürliche Linie ist und entlang der das Leben auf beiden Seiten pulsiert.

Wir sprechen hier nicht vom kleinen Grenzschmuggel, sondern das sind große Mengen, die in Lkw transportiert werden. Das bedeutet, dass die Armee Venezuelas, die ja eigentlich die Grenze kontrollieren sollte, an den Geschäften stark beteiligt ist. Das ist auch gar kein Geheimnis. Es gibt da also durchaus starke Interessen, das aufrecht zu erhalten.

Daher erklärt sich der Zeitpunkt mit den Wahlen im Dezember. Die Regierung ist unfähig, auf die Wirtschaftskrise zu antworten und signalisiert damit Handlungsfähigkeit. Dazu kommt der Mechanismus, einen äußeren Feind zu konstruieren und patriotische Gefühle zu mobilisieren. Ich weiß nicht, ob das Erfolg haben wird.

Welche Perspektiven sehen Sie im Hinblick auf die Wahl selbst?

Die Probleme im Alltag sind unglaublich groß. Die wirtschaftlichen Probleme von Inflation und Knappheit, die Sicherheitssituation hat sich nochmals verschlechtert.

Die Umfragen zeigen, dass die Opposition gewinnen wird. Die Rechte ist im »Tisch der Demokratischen Einheit« (Mesa de Unidad Democrática) organisiert und die Verfassung Venezuelas privilegiert die stärkste politische Kraft nochmals mit zusätzlichen Sitzen. Wer also eine Chance bei Wahlen haben will, muss geeint antreten oder verliert. Sie haben also die Konsenspunkte genommen und wo es Dissens gab, haben sie das über offene Vorwahlen mittels der KandidatInnen abstimmen lassen.

Und welches politische Programm hat die Rechte?

Die Rechte hat heutzutage überall ein fixes Programm: Den Neoliberalismus. Doch auch im Hinblick auf die konkrete Situation Venezuelas haben sie konkrete Punkte: Die Produktionsstruktur restrukturieren, den Wechselkurs verändern. Aber jenseits dessen gibt es nichts. Es gibt keinen Enthusiasmus, ihre Führung hat kein großes Vertrauen. Die Opposition wartet einfach darauf, dass die Regierung verliert.

Was bedeutet eine rechte Mehrheit im Parlament für den Präsidenten, der eigentlich bis 2019 gewählt ist?

Das macht es natürlich kompliziert. Wir haben ja ein hochgradig präsidentialistisches System, in dem alles weitgehend unter Kontrolle des Präsidenten ist. Die wichtigste Ausnahme ist der Staatshaushalt, der dem Parlament obliegt. Und: Bei Halbzeit der Präsidentschaft Maduros, das wäre 2016, kann die Opposition Unterschriften für ein Referendum zu seiner Absetzung sammeln.

Erleben wir gegenwärtig das Ende des »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«?

Aus meiner Sicht war die Proklamation des »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« der Anfang vom Ende in Venezuela. Das war vor zehn Jahren. Nach dem Wahlsieg von Hugo Chávez Ende 1998 war der Prozess in Venezuela sehr offen. Man stritt um indigene Fragen, um den »dritten Weg«, eine Neubestimmung der »Dritten Welt«, des Erbes der Volkskämpfe im Rahmen der Bürgerkriege im 19. Jahrhundert. Es war ein Projekt, das auf Werten basierte, auf Gleichheit, lateinamerikanischer Identität, einer multipolaren Welt. Es waren Werte und Ideen, kein Programm.

Die Bolivarische Verfassung von 1999 zeigte das. Sie hatte einen progressiven sozialdemokratischen Charakter: Ausweitung der Demokratie durch Partizipation, die Möglichkeit von Referenden. Eine stärkere Rolle des Staates in der Wirtschaft. Der Begriff Sozialismus taucht noch nicht einmal auf.

Am 30. Dezember 2005 verkündete Chávez in Porto Alegre zur Überraschung aller, dass die Revolution Venezuelas sozialistisch sei. Im Jahr drauf kündigte er die Schaffung einer Einheitspartei der Revolution an, die dann ab 2007 als Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) existierte. Damit begann ein Prozess der Schließung. Er wurde leninistischer, einheitlicher, organisierter. In den ersten Jahren gab es eine starke Ausweitung von Organisationsformen. Die entstanden je nach Kontext und Notwendigkeit. So bildeten sich etwa die »technischen Tische zum Thema Wasser« oder »die gemeinschaftlichen Wasserräte«, verschiedene Organisationsformen zu städtischen Fragen.

In der neuen Phase wurde von oben vorgegeben, was die Organisationsform zu sein habe. Die Leute, die in Kommunalräten oder zu Bildung, zu Wasser und anderen Themen arbeiteten, sollten sich dann in einheitlichen Strukturen organisieren. Die Idee einer solchen Zusammenfassung ist an sich nicht schlecht, dass es aber von oben und einheitlich vorgegeben wurde, war das Problem.

Das führte etwa dazu, dass das Ministerium der indigenen Völker zwar zum ersten Mal in der Geschichte Venezuelas sich systematisch um die indigenen Völker des Landes kümmerte, große Investitionen in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Infrastruktur vornahm - das aber ab 2006 in einer absolut kolonialen Ausrichtung. Die »indigenen Kommunalräte« wurden völlig standardisiert geschaffen, die bestehenden Strukturen der Indigenen wurden ignoriert.

Wo sehen Sie aktuell am ehesten Alternativen?

Die organisatorische Dynamik der ersten Jahre des Chavismus gingen einher mit einem enorm gestiegenen Selbstbewusstsein, mit der Wiedergewinnung der Würde jener Menschen, die gesellschaftlich unten stehen, mit der Schaffung sozialer Netzwerke, einem hohen Grad an Aktivismus, solidarischer Zusammenschlüsse. Und das in einem Land, das keine Tradition der Selbstorganisation hatte. Diese Erfahrung lebt und bleibt.

Ob der aktuelle Prozess des dramatischen Niedergangs diese Erfahrungen erhält oder in Frustration endet, das ist eine entscheidende Frage.

Bereits im Jahr 2002 beim Putsch gegen Chávez wäre eine Absetzung des Präsidenten keine Niederlage der breiten Bevölkerungsschichten und ihrer Kämpfe gewesen. Und das, obwohl damals die Organisierungsbemühungen eher am Anfang standen. Heute gibt es auch viel Erschöpfung. Dennoch: Es gibt weiterhin viele Ansätze, Spektren bis hin zur innerparteilichen Opposition in der Sozialistischen Partei. Doch der gesellschaftlich korrosive Effekt der aktuellen Entwicklungen ist nicht zu unterschätzen.

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