Werbung

Keine Antwort auf Kundus

Eine halbe Million Menschen fordern von den USA Aufklärung über den Luftangriff auf eine Klinik

  • Flo Osrainik
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Opferzahl des US-Luftangriffs Anfang Oktober auf ein Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen in Afghanistan hat sich auf 42 erhöht. Einer unabhängige Untersuchung verweigern sich die USA weiterhin.

Die Anzahl der Opfer des US-Angriffs auf das Traumazentrum der französischen Organisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) in der afghanischen Provinzhauptstadt Kundus liegt nach neuesten Angaben von MSF bei 42 Toten. Darunter sind 24 Patienten, 14 Krankenhausmitarbeiter und vier betreuende Angehörige. MSF spricht von einem Kriegsverbrechen und verlangt eine unabhängige Untersuchung des Angriffs auf das Krankenhaus; aus nachvollziehbaren Gründen, denn die Koordinaten des Krankenhauses, so die Hilfsorganisation, waren der NATO bekannt, trotzdem legte das US-Militär die Einrichtung mit mehreren gezielten Luftschlägen Anfang Oktober in Schutt und Asche.

Vor wenigen Tagen übergab MSF deshalb der US-Regierung in Washington eine Petition, um der Forderung nach vollständiger Aufklärung des Verbrechens Nachdruck zu verleihen. Die weltweit tätige Ärzteorganisation verlangt eine unabhängige Untersuchung durch die Internationale Humanitäre Ermittlungskommission (IHHFC), was von den Regierungen sowohl Afghanistans als auch der USA bisher verhindert wird. Die IHFFC ist die einzige Instanz, die zur Untersuchung von Verletzungen des humanitären Völkerrechts nach der Genfer Konvention errichtet wurde. Der Vorfall wurde bisher nur durch das US-Militär, die afghanischen Streitkräfte und die NATO - im Bericht der NATO geht es nur um die Feststellung ziviler Opfer - untersucht. Der von den US-Streitkräften erstellte Bericht soll 3000 Seiten umfassen und ist nicht öffentlich.

Das US-Militär gab seinerzeit in Kabul lediglich fünf Seiten seines Untersuchungsberichts bekannt und dass sich der Vorfall infolge »menschlichen Versagens« - so formuliert ist es kein Eingeständnis eines Kriegsverbrechens - ereignet habe und durch »organisatorische Mängel« begünstigt worden sei.

Die US-Streitkräfte wollen nicht gewusst haben, dass es sich bei dem Angriffsziel um das Traumazentrum von MSF handelte. Ziel der US-Luftangriffe seien »Personen gewesen, die eine Gefahr für die Streitkräfte darstellten«. MSF behandelt alle hilfsbedürftigen Personen - auch Taliban -, unabhängig davon, ob sie einer zu Konfliktpartei gehören oder nicht. Das Angriffsobjekt sei von den ausführenden Soldaten »nicht verifiziert« worden. Die beteiligten Personen habe man suspendiert. Um wen es sich dabei gehandelt habe - keine Angaben.

MSF widerspricht der US-Darstellung. »Es reicht nicht aus, wenn die Täter die einzigen Ermittler sind«, zitiert MSF Jason Cone, den Geschäftsführer der Organisation. Laut Cone hatte die US-Armee die GPS-Daten des Krankenhauses von MSF selbst übermittelt bekommen. Das ist übliche Praxis von MSF in Krisenregionen und soll der eigenen Sicherheit dienen. Die US-Erklärung zur Bombardierung der Klinik in Kundus bezeichnet MSF deshalb als »ungenügend« und verlangt die Veröffentlichung des ganzen Berichts. Laut der deutschen Sektion der Organisation wirft der überarbeitete Auszug »mehr Fragen auf, als er Antworten liefert«. Vom humanitären Völkerrecht sei nicht die Rede gewesen. Man habe sich vielmehr auf geheime Einsatzregeln der US-Armee bezogen. Eine Strafanzeige wurde allerdings nicht gestellt. »Unsere Priorität ist eine unabhängige Untersuchung«, heißt es bei MSF. Die Organisation hat einen eigenen Bericht über den Angriff im Internet veröffentlicht (kunduz.msf.org/).

Auch Zeid Raad al-Hussein, UN-Hochkommissar für Menschenrechte, fordert eine unabhängige Untersuchung des Angriffs. MSF erhofft sich dadurch die Klärung aller »widersprüchlichen Angaben« und die Bekanntmachung sämtlicher Details. Außerdem sollen Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht festgestellt und Empfehlungen zur künftigen Vermeidung derartiger Vorfälle abgegeben werden können. »Für die weitere Arbeit humanitärer Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen ist entscheidend, dass die Konfliktparteien das humanitäre Völkerrecht respektieren«, schreibt MSF auf Anfrage.

Nach der Zerstörung des einzigen Traumazentrums der Region »haben Hunderttausende Menschen im Nordosten Afghanistans keinen Zugang zu medizinischer Versorgung mehr«, so MSF. Eine Antwort der US-Regierung auf die Forderung von MSF - weltweit haben sich in weniger als zwei Monaten über 547 000 Menschen an der Petition beteiligt - steht weiter aus.

Der Angriff auf das Hospital war der erste von zwei Attacken auf ein MSF-Krankenhaus durch die USA oder ihre Partner in kurzer Zeit. Ende Oktober wurde eine weitere Einrichtung, in Saada, einer Provinz in Jemen, durch die von Saudi-Arabien geführte Kriegskoalition zerstört. Auch bei diesem Verbrechen waren die Koordinaten der Klinik laut MSF bekannt. Das Krankenhaus wurde ebenfalls komplett zerstört und war für 200 000 Menschen in der Region zuständig.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -