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Unappetitlich von Anfang bis Ende

Wie viele Deutsche damals Hitlers Pamphlet lasen, ist ungewiss, eine knappe Mehrheit lehnt heute das Verbot ab

Es ist als das deutscheste Buch der Deutschen und gefährlichste, wirkmächtigste Buch der Welt beschrieben worden. Weder die eine noch die andere apodiktisch vorgetragene Behauptung ist stimmig.

Sechs Millionen ermordete Juden, 65 Millionen Tote des Zweiten Weltkrieges. Folge des Ungeistes, rassistisches Gift versprühenden und Hirne vernebelnden Inhalts von Hitlers »Mein Kampf«? Auch, aber nicht nur. Nicht das Buch, Menschen mordeten.

Gern wird gerätselt, wie viele Deutsche überhaupt das vom gescheiterten Novemberputschisten in seiner gemütlichen Zelle Nr. 7 auf der Festung Landsberg diktierte und letztlich auf 800 Seiten ausufernde Konglomerat aus Autobiografie und programmatischen Bekenntnissen gelesen haben. Nach anfänglich weitgehender Ignoranz respektive vernichtender Kritik selbst in konservativen Blättern (»platteste Plattheiten«, »unsachliches Schimpfen« etc.) erfuhren mehr Aufmerksamkeit die zwei Bände (von denen der erste unter dem Titel »Eine Abrechnung« am 18. Juli 1925, der zweite, »Die nationalsozialistische Bewegung«, am 11. Dezember 1926 erschien) erst mit dem rasanten Stimmenzuwachs der NSDAP während der Weltwirtschaftskrise. Zu Hitlers Antritt als Reichskanzler kam eine komprimierte, einbändige »Volksausgabe« für acht Reichsmark heraus, bis 1945 sollen über zwölf Millionen Exemplare gedruckt worden sein.

Ob diese teils auf behördliche Anweisung, teils aus Opportunismus von Deutschen zu allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten - von der Taufe, über die Konfirmation und Hochzeit bis zu ... Beerdigungen wohl eher nicht, aber zu Geburtstagen und diversen Ehrungen - gekauften und verschenkten Ausgaben tatsächlich von der ersten bis zur letzten unappetitlich-hetzenden sowie strapaziös-schwülstigen Seite studiert wurden, ist fraglich. Selbst hinsichtlich der acht Millionen NSDAP-Mitglieder. Wie viele Deutsche die für Januar 2016 angekündigte kritisch-kommentierte und limitierte Ausgabe von »Mein Kampf« lesen werden, lesen wollen, lässt sich nicht abschätzen. Nach Meinungsumfragen lehnen 51 Prozent der Bundesbürger das Verbot »ganz und gar« ab oder sind »eher« nicht für dessen Aufrechterhaltung. In Israel gibt es seit Mitte der 1990er Jahre eine komplett ins Hebräische übersetzte Edition. Der Freistaat Bayern, der bis dato die Urheberrechte innehatte, intervenierte dagegen nicht, während er gegen andernorts erschienene Neuausgaben klagte und illegale Bände kassierte.

Man muss heute nicht mehr »Mein Kampf« lesen, um zu wissen, welche Politik der bayerische Kriegsgefreite aus dem österreichischen Braunau zu verwirklichen gedachte, wenn er an die Macht gelangte - was ihm 1933 vor allem dank deutschen Kapitals und konservativer deutscher Eliten gelang. Das ist alles bekannt. Und davon zeugen die Opferstatistiken, die Hunderttausenden gehängten Antifaschisten, vergasten Sinti und Roma und totgespritzten »Behinderten« sowie Millionen erschossenen und verhungerten Angehörigen slawischer Völker, darunter an die sechs Millionen Polen und über zwanzig Millionen Russen, Belorussen, Ukrainer.

Für Wissenschaftler mag es eine Herausforderung und Pflicht sein, zu ergründen, inwieweit Hitler seine Mord- und Expansionsgelüste von 1924 in der Folge konkretisierte. Für ein Urteil, gar eine Revision des Bildes über den größten Verbrecher aller Zeiten ist es belanglos zu wissen, was jener auf der Feste selbst feste fabulierte und welche Passagen sein »Stellvertreter« Rudolf Heß, der Chefredakteur des »Völkischen Beobachters« Dietrich Eckart oder sein Finanzier Ernst Hanfstaengl dazumal sowie NS-Propagandachef Joseph Goebbels später redigierten, korrigierten und präzisierten. Fakt ist, »Mein Kampf« strotzt vor ekligem Eklektizismus. Plagiator Hitler nennt - als »Gröfaz« Originalität suggerierend - seine geistigen Quellen und Ideengeber nicht. Zu denen gehörten der französische Rassentheoretiker Arthur de Gobineau und der britische Antisemit Houston Stewart Chamberlain ebenso wie Richard Wagner oder die Ochrana, die Geheimpolizei des Zaren, aus deren Fälscherwerkstatt die weltverschwörerischen »Protokolle der Weisen von Zion« stammten.

Die nach jahrelanger Kontroverse vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin erarbeitete Edition von »Mein Kampf« versteht sich als Beitrag zur historisch-politischen Aufklärung: »Es gilt, Hitler und seine Propaganda nachhaltig zu dekons-truieren und damit der nach wie vor wirksamen Symbolkraft dieses Buchs den Boden zu entziehen«, heißt es auf der Homepage des Instituts. Man hoffe zudem, propagandistischem wie kommerziellem Missbrauch entgegenzuwirken. Man wird sehen, ob der fromme Wunsch aufgeht. Oder »Mein Kampf« Bestsellerlisten stürmt.

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