Klimapolitisches Desaster
Bei einem »Weiter-so« wird die Bundesrepublik ihr Einsparziel 2020 bei den Treibhausgasemissionen verfehlen
Der Weltklimagipfel in der französischen Hauptstadt sei historisch gewesen, sind sich ziemlich alle einig. Einem sowohl vor als auch während der UN-Konferenz in Paris als Vorreiter in Sachen Klimaschutz auftretenden Land droht in den nächsten Jahren zu Hause allerdings das klimapolitische Desaster: Deutschland. Wer Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) in Paris erlebte, kann ihr den guten Willen nicht absprechen. Sie stritt für das 1,5-Grad-Ziel zur Begrenzung der Erderwärmung, brachte Milliardengelder für den globalen Ausbau der Erneuerbaren zusammen und zimmerte mit an der High-Ambition-Coalition, der »Koalition der Ehrgeizigen«. Fragen danach, wie es um die Klimapolitik zu Hause steht, wurden von der Ministerin in Paris nur kurz angebunden beantwortet. Was hätte sie auch sagen sollen? Dass die Bundesregierung lange vor Paris und letztlich auch mit ihrer Zustimmung die gesetzgeberischen Weichen für die nächsten Jahre schon gestellt hat - und zwar oft kontra Klimaschutz?
Jüngstes Beispiel ist die Novellierung des Kraft-Wärme-Kopplungs-Gesetzes. Diese beerdigte sang- und klanglos das Ziel, bis 2020 am Strommarkt einen KWK-Anteil von 25 Prozent zu erreichen. Diese Marke wird nun frühestens für 2025 angepeilt. Ein Prozent KWK-Strom mehr bedeutet in etwa die Reduzierung der CO2-Emissionen um drei bis vier Millionen Tonnen jährlich. Wenn nun fünf Prozentpunkte weniger bis 2020 eingespart werden müssen, könnten 15 bis 20 Millionen Tonnen CO2 mehr ausgestoßen werden.
Die nächste Richtung gibt Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) mit seinem Gesetz zum »Strommarkt 2.0« vor. Das wird voraussichtlich Anfang 2016 den Bundestag passieren und die Ökoenergien mehr denn je den Marktmechanismen unterwerfen, sie durch Ausschreibungen und »Deckelungen« knebeln. Grüner Strom soll weiter an der Börse »verramscht« werden.
Das Strommarktgesetz schickt ab 2016 auch 2700 Megawatt Braunkohlestrom nach und nach in die »Bereitschaftsreserve« und später in die Stilllegung. Diese Maßnahme, die den Stromkunden 1,6 Milliarden Euro kostet, ist neben dem wenngleich gebremsten Ausbau der Erneuerbaren im Moment die einzig wirklich große CO2-Reduktion, die für die nächsten Jahre geplant ist.
Wollte die Bundesregierung noch ihr Ziel erreichen, bis 2020 die Treibhausgasemissionen um 40 Prozent gegenüber dem Jahr 1990 zu reduzieren, müssten doppelt so viele Braunkohlekraftwerke stillgelegt werden wie bisher geplant, rechnete jüngst der schleswig-holsteinische Umweltminister Robert Habeck (Grüne) vor. Realisiere man die Verdopplung nach dem Vorbild der »Bereitschaftsreserve« würde das, so Habeck, eine »teure Tasse Tee«.
Der »Strommarkt 2.0« und andere Gesetzesvorhaben müssten im Grunde gestoppt und ganz andere Regeln aufgestellt werden. Denn nicht nur der viel zu zögerliche Kohleausstieg reißt eine große »Lücke« in die Bilanz der Emissionsreduktion. Auch die - je nachdem - falschen oder gefälschten Angaben zum CO2-Ausstoß von Pkw sind ein Problem. Seit 2002 seien die Emissionen bei Neuwagen von 170 auf 123 Gramm je Kilometer gesunken, sagen die Autokonzerne. Nach immer neuen Tests ist aber klar, dass ungezählte Fahrzeuge deutlich mehr verbrauchen. Von diesen CO2-Schleudern werden noch immer Millionen Exemplare verkauft. In Deutschland wird ein Auto im Schnitt derzeit 18 Jahre lang genutzt. Nicht schwer zu erkennen, dass höhere Emissionen so bis weit übers Jahr 2030 hinaus zwingend zu erwarten sind.
Und die Kauflaune der Autofahrer wird anhalten. Durch den Preisverfall beim Öl sparen die Verbraucher zusammen derzeit jährlich mehr als zehn Milliarden Euro, die sie bei Sparzinsen nahe Null auch ausgeben müssen. Dazu kommen 2016 die Mehrausgaben aus dem Bundeshaushalt, mit denen der Zustrom von Flüchtlingen bewältigt werden soll - ebenfalls etwa zehn Milliarden Euro. Zusammen ergibt das ein veritables Konjunkturpaket. »Degrowth« ist in Deutschland weit und breit nicht in Sicht.
Sinkende Preise und eine gute Konjunktur böten aber die seltene Gelegenheit, umzusteuern und zum Beispiel umweltschädliche Subventionen zurückzufahren - gerade im Verkehrsbereich: Die Abschaffung der Steuernachlässe bei Diesel würde sieben Milliarden Euro in die Staatskasse spülen, die Abschaffung der höhere Einkommen bevorteilenden Entfernungspauschale fünf Milliarden Euro. Würde Flugzeugbenzin normal besteuert, brächte das sieben Milliarden Euro, die Abschaffung des spritfresserfördernden Dienstwagenprivilegs noch einmal 500 Millionen.
Wegen der Trägheit der Infrastruktur - siehe 18 Jahre Autonutzung - dulden solche Maßnahmen eigentlich keinen Aufschub. »Wir dürfen nicht mehr über 120 oder 130 Gramm CO2 pro Kilometer reden«, betont der neue Präsident des Deutschen Naturschutzrings, Kay Niebert. Seit Paris gehe es um »null Gramm pro Kilometer«.
Subventionen zurückzufahren hätte, wie Ökologen nicht müde werden zu betonen, einen doppelten Effekt: Umweltschädliche Aktivitäten würden verteuert und es würden Milliarden frei, um den Gebäudebestand zu sanieren oder den öffentlichen Nahverkehr attraktiver zu machen. Es wäre also genügend Geld da, um auch die teuerste Tasse Tee zu bezahlen.
Bis zur Bundestagswahl 2017 wird sich aber kaum etwas tun. Weder Union noch SPD werden ihre Wahlchancen schmälern wollen. So lobte Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) erst kürzlich wieder den Diesel und schmetterte die zarten Forderungen aus dem Umweltministerium und dem Umweltbundesamt ab, die Steuerbevorteilung zu beenden. Paris war gestern, das realpolitische Desaster ist heute.
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