Schlaflose Eigenbrötler

So darf eigentlich kein Text beginnen, hat man mir mal beigebracht: Bereits 1910 schrieb der Kunstkritiker und Publizist Karl Scheffler (sind Sie noch da?) einen Text über Berlin, dieses zur Großstadt zwangsvereinigte Dorfensemble, der, so sagt es jedenfalls ein weiterer bedeutender Kunsthistoriker und Autor unserer Tage, Florian Illies, immer noch das Aktuellste ist, was je über Berlin geschrieben wurde. Und mit seiner Analyse, das ist nun der Punkt, habe er auch noch Recht. (Sie sind noch da.)

Schefflers im Endeffekt von tiefster Zuneigung motivierte Polemik behauptet, das Schlimmste an Berlin sei doch, dass es von sich behaupte, Metropole zu sein, aber neben Städten wie Paris oder London doch mit Abstand das Kulturloseste sei, was es gibt. Die Bevölkerung, »ein zusammengewürfelter Haufen materialistisch orientierter Eigenbrötler«. Von Scheffler stammen Erkenntnisse wie die, dass Berlin dazu verdammt sei, »immerfort zu werden und nie zu sein«, oder wie Illies paraphrasiert »Wenn New York die Stadt ist, die niemals schläft, dann ist Berlin die Stadt, die niemals aufwacht.« Letzteres möchte ich, wenn auch zu den anderen hübschen Beobachtungen nicht der Platz ist, Stellung zu beziehen, doch arg in Zweifel ziehen. Unter meinem Fenster und dem Fußboden meiner Wohnung, die im dritten Stock liegt, spielen sich des Nachts regelmäßig Szenen ab, die so voller Lebendigkeit sind, dass es nur schwer nachzuvollziehen ist, wie man zu dem Urteil kommen kann, Schefflers Text sei das Aktuellste, was man über Berlin sagen, schreiben, denken kann.

Die Dramen, die sich in Prenzlauer Berg (!) abspielen, sind Beleg dafür, dass diese Stadt sich niemals zur Ruhe bettet. So stritten erst kürzlich zwei Saufkumpane morgens um halb fünf unterhalb meines Schlafzimmerfensters darüber, wie der weitere Tagesablauf zu gestalten sei, wobei der eine seine Argumente aus einem Gebüsch heraus vorzutragen schien. Jedenfalls legte er in einem 15-minütigen Monolog dar, dass er sich hinlegen müsse, um in Ruhe darüber nachzudenken, wie der Heimweg zu organisieren sei, wohin dieser ihn überhaupt führe und wie ein Zugang zur Wohnung ohne Schlüssel gelingen kann. Die Gabi könne er jedenfalls nicht schon wieder fragen, die habe ihn erst gestern hartherzig zurückgewiesen. Wobei der andere, offenbar weniger stark berauscht, ihn nach dem Ende des traurigen Selbstgespräches dazu animierte, wenigstens aus dem Kirschlorbeer wieder herauszukommen. Gleiche Rastlosigkeit gilt für eine Geschichte aus dem Spätsommer, an der mein »Call of Duty« dauerzockender Unternachbar beteiligt war, als er einen studentischen Balkonabend um kurz nach zwei Uhr abrupt mit dem Hinweis beendete: »Macht den Kopp zu, ihr Arschgeigen, sonst komm ick rüber und reiß euch in Stücke.« Demnach behält Scheffler zumindest beim Thema Kulturlosigkeit und Eigenbrötlertum Recht. Für eine förmliche Ansprache (»Sie Arschgeigen«) hätte die Zeit, gerade in diesem Teil der Stadt, noch reichen müssen.

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