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Das traurigste Kapitel der Shoah
Alwin Meyer reiste um die Welt und schrieb erschütternde Geschichten auf: Die Kinder von Auschwitz
Auschwitz hat sie nie losgelassen. Der Schmerz ist immer da. Vor dem Frühstück. Am Tag. Am Abend. In der Nacht. Die Mutter, die ermordet wurde, der Vater, die Schwester, der Bruder, die Großeltern, die Freundin, der Freund, Tanten und Onkel … Sie tragen die Spuren des Erlittenen auf dem Leibe und in ihrer Seele.« Überlebende in aller Welt hat Alwin Meyer aufgesucht und befragt. Er reiste von Berlin nach Budapest, Frankfurt am Main, Gdynia, Warschau und Krakau, nach Prag, Wien und Thessaloniki, Kaunas und Vilnius ... Die Berichte der einstigen Kinder von Auschwitz lassen niemanden mit Herz und Verstand unberührt. Unglaublich, ungeheuerlich, was jenen angetan worden ist - im Namen des deutschen Volkes.
Kinder in Konzentrations- und Vernichtungslagern, nicht nur in Auschwitz - das ist das traurigste, schlimmste, furchtbarste Kapitel deutsch-faschistischen Rassenwahns. Wehr- und schutzlos waren sie ihren Peinigern und Mördern ausgesetzt. Ahnungslos in Viehwaggons gepfercht und auf eine Fahrt ins Ungewisse geschickt, an der Rampe ihren Eltern, Großeltern und Geschwistern entrissen, von Sadisten für »medizinische Experimente« missbraucht oder zu schwerster Slavenarbeit verdammt ... Waren ihre Ärmchen zu dünn, wurde ihnen die Häftlingsnummer ins Gesäß tätowiert. Babys wurden zumeist sofort ermordet. Manche Kinder wünschten sich den Tod herbei, weil sie die verzehrende Sehnsucht nach den ermordeten Eltern und Geschwistern oder den ewigen, unstillbaren Hunger nicht mehr ertragen konnten.
Die am 27. Januar 1945 von der Roten Armee befreiten Kinder von Auschwitz waren nur noch Haut und Knochen. Wandelnde Skelette. Ihre schmächtigen Körper waren von Geschwüren, Prügelspuren und Bisswunden der Wachhunde übersät, ihre Augen von Eiter verklebt. Die erste richtige Nahrung lief durch sie durch wie bei einem Sieb. Sie litten an Tuberkulose, Diphtherie, Ruhr. Die Soldaten und Sanitäter, die sich als erste um sie kümmerten, befürchteten, die armen Geschöpfe würden die nächsten Tage oder Wochen nicht überleben. Tatsächlich starben im Lager trotz größtmöglicher Fürsorge - draußen tobte noch der Krieg - Hunderte an Auszehrung.
Fast alle befreiten Kinder waren Waisen. Die Kleinsten kannten nicht einmal ihren Namen, wussten nichts über ihre Herkunft. Sie verständigten sich in einem seltsamen Sprachenmischmasch. Und waren noch immer in Furcht, verteidigten Essen oder Schlafplatz, als ginge es um ihr Leben. Die Kleinsten zeigten sich unfähig zu spielen, mussten es erst erlernen. Noch Jahre nach dem Krieg löste ein Arzttermin bei vielen Panikattacken aus. Sie waren reizbar und misstrauisch, verschlossen und verstört. Sie waren jetzt zwar frei, aber wie leben - nach Auschwitz? »In quälend langen Jahren mussten sie lernen, das Leben aus einer anderen Perspektive als der des Lagers zu sehen. Sie mussten lernen, das Lager seelisch zu überleben. Sie mussten lernen, wieder jung zu werden, um wie die anderen Menschen altern zu können«, schreibt Alwin Meyer.
Überall in Europa gab es vor der Naziherrschaft über Deutschland und den Kontinent reges jüdisches Leben, trotz auch vorheriger Verfolgungen und Vertreibungen. Mehr als 30 000 Ortschaften zählte der Autor. Einschneidende und einflussreiche Entwicklungen verdankten sich Geist, Fantasie und Kreativität jüdischer Forscher, Industrieller und Intellektueller, Künstler und Politiker. Während Alwin Meyer seine Gesprächspartner dem Leser vorstellt, informiert er über jüdische Geschichte und Kultur in deren Heimat. Besonders ausführlich beschreibt er das Leben in Oświęcim, jiddisch: Oshpitzin, vor dem Überfall Nazideutschlands auf Polen sowie die Etappen der Errichtung des Konzentrations- und Vernichtungslagers ab 1940, sich dabei maßgeblich auf die Zeugenschaft des zwangsverpflichteten Josef Jakubowicz stützend. Der erste große Transport kam am 14. Juni 1940 in Auschwitz an, 728 politische Häftlinge, darunter der 17-jährige Gymnasiast Kazimierz Albin, der später, nach geglückter Flucht, sich der polnischen Untergrundarmee anschloss.
Ob Janek Mandelbaum aus Gdynia, der Sinto-Junge Herbert Adler aus Frankfurt am Main, Jürgen Loewenstein und Wolfgang Wermuth aus dem Berliner Scheunenviertel, Lydia Holznerova aus Ostböhmen - was sie erlebten und erlitten, sprengt die Grenzen des Vorstell- und Fassbaren. Lidia Rydzikowska, in der Ukraine geboren, ist im zarten Alter von vier Jahren nach Auschwitz verschleppt worden. Kurz vor ihrer gewaltsamen Trennung schärfte ihr die Mutter ein: »Vergiss deinen Namen nicht, vergiss deinen Namen nicht, vergiss ihn nicht …« Anna Poltschtschikowa gebar in Auschwitz-Birkenau am 15. Oktober 1944 einen Sohn. Ein Sieg über die Bestie: Sie und ihr Baby Viktor erlebten den Tag der Befreiung. Vera und Olga Grossmann sowie Juzií und Zdenek Steiner graut es noch Jahrzehnte danach, wenn sie über Josef Mengele sprechen. Judith Rosenbaums Zwillingsschwester Ruth, der man die Füße amputiert hatte, starb anderthalb Monate nach der Befreiung, sah die ungarische Heimat nicht wieder. Heinz Salvator Kounio aus Thessaloniki wiederum war einer der wenigen Kinder, die Auschwitz und weitere Stätten des Leidens an der Seite eines Elternteils überlebten. Die Rote Armee traf bei ihrer Ankunft im Todeslager auf 650 Kinder; laut Gedenkstätte Auschwitz sind 232 000 Kinder und Jugendliche nach Auschwitz verschleppt worden.
Das Buch von Alwin Meyer lag lange unberührt auf meinem Schreibtisch. Fürchtete ich mich vor dem, was ich da lesen würde? Ich wusste, was mir bevorstand. An einem stillen, einsamen Wochenende las ich das Buch. Und ja, mir flossen die Tränen. Aber ich erinnerte mich auch in Dankbarkeit an Adam und Maria König, die »Liebenden von Auschwitz«, und an Werner Krisch, der nur überlebte, weil er sich zwei Wochen lang in einer Sandkuhle unter Holzbrettern versteckt hielt, nachdem sein Block von der SS zur Vergasung aufgerufen worden war. Freimütig haben sie und andere Überlebende mir, obwohl es sie noch schmerzte, ihre Erlebnisse in der Hölle geschildert. Und ich musste bei der Lektüre auch an die traurigen, flehenden Augen der Kriegs- und Flüchtlingskinder denken, die uns täglich aus den Nachrichtensendungen anschauen. - Alwin Meyer hat ein Gedenkopus verfasst, das Shoah-Dokumentationen wie die von Steven Spielberg oder Claude Lanzmann würdevoll bereichert.
Alwin Meyer: Vergiss deinen Namen nicht. Die Kinder von Auschwitz. Steidl Verlag, Göttingen. 757 S., geb., 38,80 €
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