Keine einfache Alternative. Aber immerhin eine

Der Zoff im Regierungslager wird weitergehen, solange es keine Option jenseits der Großen Koalition gibt. Wir müssen über eine Minderheitsregierung reden

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 7 Min.

Das in der Linkspartei »Affentheater« genannte Spiel, bei dem die CSU und Teile der CDU die Rolle einer Opposition in der Regierung übernommen haben, läuft vor allem deshalb immer weiter, weil kein Schlusspfiff in Aussicht ist. Da kann die CSU noch so sehr krakeelen, einen neuen Kreuther Trennungsbeschluss werden Horst Seehofer und die Seinen so wenig wagen wie einen Abzug der bayerischen Minister aus der Bundesregierung. Die CDU wird die Christsozialen auch nicht aus der Koalition werfen, Angela Merkel steht nicht vor dem Rücktritt und die SPD hat - nach Lage der Dinge auch keine strategische Option jenseits der Großen Koalition.

Wenn ein Sigmar Gabriel sagt, »es gibt in der Bundesregierung keinen Streit«, dann ist das wie beim Spaghettikochen - ab und an nimmt man den Deckel vom Topf, dann fällt der wilde weiße Schaum wieder in sich zusammen. Wenn ein Thomas Oppermann süffisant darauf hinweist, dass CDU und SPD allein derzeit auch eine große Mehrheit im Bundestag haben (448 von 630 Mandaten), dann deshalb, um die CSU mit dem Hinweis auf die kleine, große Koalition ein bisschen zu disziplinieren, vielleicht auch: zu demütigen: Die mit der größten Klappe werden eigentlich gar nicht gebraucht. Und wenn ein Ralf Stegner die Seehofer-Truppe eine »Krawallbruderschaft« nennt, ist das zwar richtig. Es steckt aber auch ein gehörig Maß an Pfeifen im Walde darin - die Sozialdemokraten müssen zu Recht fürchten, auf einem Dauerparkplatz in einer strategischen Sackgasse gelandet zu sein.

Das Ganze hat Folgen, wie hier bereits beschrieben: »Die tatsächliche Opposition wird zum Verschwinden gebracht. Linkspartei und Grüne werden meist nur noch als Warner und Mahner wahrgenommen, die sich der Rechtsentwicklung innerhalb der Regierung entgegenstellen – und damit erscheinen sie als Akteure der dort inszenierten Binnenkonflikte.« Also: Welche Alternativen zur Großen Koalition wären denkbar?

Gar nicht so viele. Dass es unter den gegebenen Verhältnissen den Sprung einer relevanten Kraft in eine neue Mehrheit gibt, ist sehr unwahrscheinlich. Zwar könnten sich sowohl eine schwarz-grüne Koalition (318 von 630 Mandaten) als auch Rot-Rot-Grün (320 von 630 Mandaten) auf eine Mehrheit der Sitze im Bundestag stützen, aber dies sind Rechenspiele. Nur etwas wahrscheinlicher sind Neuwahlen - bei der die meisten im Parlament vertretenen Parteien Verluste fürchten müssten, weshalb sich niemand danach drängelt. Außerdem: Bis 2017 ist es nicht mehr so weit hin, dann steht ohnehin eine Abstimmung an.

Und dann? Dass die Union unter Führung von Angela Merkel mit der sich immer weiter nach rechts radikalisierenden AfD ein Bündnis eingeht, ist auf absehbare Zeit nicht zu erwarten. Eine rot-rot-grüne Koalition des »historischen Kompromisses« gegen eine noch weiter ausgreifende Rechtsentwicklung hätte sehr wahrscheinlich keine Mehrheit, weil es zu wenig Kräfte gibt, die diese »Machtoption« popularisieren würden. Schwarz-Grün mag in der Logik eines bestimmten bürgerlichen Lagers liegen, ist aber ebenfalls ohne Rumpf. Und danach, dass irgend jemand die »Ampel« aus der Abstellkammer der politischen Mehrheitslehre holen muss, sieht es auch nicht aus.

Die Demoskopen von Forsa haben vorgerechnet, dass für eine regierungsfähige Mehrheit etwa 47,5 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen erforderlich sind. Diese würde nach dem Stand der Dinge weder ein »bürgerlicher« ohne AfD noch ein »Mitte-Links«-Block erreichen. Also bleibt nur die Große Koalition?

Das müsste nicht sein. Im Bund könnte auch eine Minderheitsregierung amtieren, die sich auf wechselnde Mehrheiten stützt. Eine solche Variante ist immer einmal wieder diskutiert worden, sogar der amtierende SPD-Vorsitzende hat über die Option schon öffentlich nachgedacht. Es ging seinerzeit auch um Nordrhein-Westfalen, wo ein rot-grünes Minderheitenkabinett später nicht nur schlechte Erfahrungen machte. »Solche Minderheitenregierungen, die inhaltlich gut arbeiten, sind allemal besser als Regierungen, die zwar eine rechnerische Mehrheit haben, aber nichts miteinander anzufangen wissen«, sagte Sigmar Gabriel damals im Jahr 2010 - und es klingt heute wie eine Mahnung angesichts des großkoalitionären Kladderadatsches.

Gabriel hat dann das getan, was er am besten beherrscht: Er hat seine Meinung geändert. Als sich 2013 der Berliner SPD-Landeschef Jan Stöß dafür aussprach, nach den damaligen Bundestagswahlen auch im Falle einer rot-grünen Minderheit »diese Gestaltungsmehrheit nutzen«, war Gabriel schon wieder dagegen - er sah nun eine »unsichere Regierungssituation per Tolerierung«, zieh Stöß des öffentlichen »Schwadronierens« und gefiel sich darin, wechselnde Mehrheiten als »unverantwortlich« und »Abenteuer« abzutun.

Aus der Linkspartei waren seinerzeit Signale zu vernehmen, die nicht nach völliger Abneigung klangen. Auch demokratiepolitisch wird immer einmal wieder der Versuch unternommen, die Vorzüge eines Modells von Minderheitsregierungen mit wechselnden Mehrheiten überhaupt bekannt zu machen. Das Parlament würde gestärkt, offene Abstimmungen würden zu einer Repolitisierung der Demokratie gegenüber einem von Selbstblockaden und parteilogischen Motiven eingeengten Parlament führen. »Regeln, Prioritäten und Routinen des Parlamentarismus sind von dem ungewohnten Regierungsformat direkt betroffen«, so der Parteienforscher Karl-Rudolf Korte.

»In jedem Fall verändern Minderheitsregierungen die Mechanismen der parlamentarischen Arbeit und brechen die gewohnten Strukturen auf. Selbst wenn sie sich durch feste legislative Bündnisse absichern, führen zusätzliche Verhandlungsebenen zu einer Belebung des politischen Diskurses«, so sein Kollege Stephan Klecha, der in einer umfangreichen Studie die immerhin schon »25 Beispiele für Minderheitsregierungen in Deutschland« untersucht hat. Auch der heutige Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow hatte sich in diese Richtung geäußert: Man solle sich von der Philosophie der absoluten Mehrheit lösen und mehr Energie in die Frage von wechselnden Mehrheiten stecken, sagte der Linkenpolitiker 2013 vor der Bundestagswahl.

Ob eine Debatte darüber auch heute wieder und wirklich in Gang kommt, steht auf einem anderen Blatt. Immerhin hat Martin Pfafferott von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung jetzt in der »Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte« einen neuen Versuch in diese Richtung unternommen: Eine rot-grüne Minderheitsregierung »könnte echte Vorteile bieten und die Machtoptionen« der SPD erweitern. Pfafferott, der über Minderheitsregierungen promoviert, verweist auf demokratiepolitische Vorteile, geht mögliche Szenarien durch und buchstabiert kurz durch, was es für die SPD bedeuten könnte, mit der Linkspartei »gemeinsam zu handeln, ohne sie an der Regierung beteiligen zu müssen«.

Für die Gegner einer Kooperation mit der Linkspartei in der SPD wäre eine Minderheitsregierung ebenso praktisch wie für das Lager in der Linkspartei, dessen (realpolitische) Wirksamkeit durch rote Haltelinien begrenzt wird. Die Vorstellung: Es könnten zum Beispiel auf dem Feld von Sozial- und Gleichstellungspolitik relative rot-rot-grüne Mehrheiten zusammenkommen - für eine militärisch geprägte Außenpolitik, die von SPD und Grünen nicht abgelehnt wird, müssten diese sich andere Mehrheiten suchen, die Union würde vor lauter »staatspolitischer Verantwortung« sicher nicht zurückstehen.

Natürlich: Eine Debatte über die Option Minderheitsregierung und wechselnde Mehrheiten kann nicht von der politischen Substanz schweigen. Mag sein, dass es gar nicht so viele inhaltliche Gründe gibt: Welche reformpolitischen Projekte könnte ein Mitte-Links-Block durchsetzen wollen? Darüber wäre ebenso zu diskutieren wie über weitergehende Reformen eines parlamentarischen Betriebs, in dem Abgeordnete mit eigener Meinung als »Abweichler« gelten und eine Koalition über sich selbst Bilder einer zerrütteten Ehe verbreitet, in der man nicht mehr miteinander spricht.

Pfafferott sieht auch die Schwierigkeiten einer Minderheitsregierung auf Bundesebene (vor allem mit Blick auf den Bundesrat) und die Risiken eines solchen Modells für die dann folgenden Wahlergebnisse - »genau dies kann aber auch ganz sicher über die Große Koalition vermerkt werden«. Eine »einfache Alternative« ist es nicht, »aber immerhin ist sie eine«.

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