Schmeckt nicht allen, wirkt aber

Nach einem Jahr Mindestlohn zieht die Hans-Böckler-Stiftung positive Bilanz / Hotel- und Gaststättenverband malt weiter schwarz

  • Jörg Meyer
  • Lesedauer: 5 Min.
Mehr sozialversicherungspflichtige Jobs, mehr Geld im Portemonnaie. NGG und ver.di feiern ein Jahr Mindestlohn. Die beiden Gewerkschaften hatten den Kampf vor über einem Jahrzehnt begonnen.

Seit etwas über einem Jahr ist der gesetzliche Mindestlohn in Höhe von 8,50 pro Stunde in Kraft. Dieser Tage ziehen weitere Akteure aus Gewerkschaften, Politik und Unternehmen Bilanz. In Berlin hatte für Donnerstag und Freitag das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung zum tarifpolitischen Workshop geladen. Pünktlich zum Termin hatte das WSI am Donnerstag eine aktuelle Auswertung zu den Effekten des gesetzlichen Mindestlohnes veröffentlicht.

Fazit: Der Mindestlohn hat zu deutlichen Verdienstzuwächsen geführt und der insgesamt positiven Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt nicht geschadet, teilte das WSI am Donnerstag mit. Grundlage des positiven Zwischenstands ist die Auswertung von aktuellen Daten aus dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP), einer seit 30 Jahren laufenden Wiederholungsbefragung. In rund 11 000 Haushalten in ganz Deutschland werden in deren Rahmen Einkommens- und Erwerbssituation, Bildung oder Gesundheit abgefragt.

Zwar lasse sich noch nicht mit Bestimmtheit sagen, wie viele Menschen vom Mindestlohn direkt betroffen seien, schreiben die drei Autoren der Studie, Marc Amlinger, Reinhard Bispinck und Thorsten Schulten. Jedoch deuteten »die überdurschnittlich hohen Lohnsteigerungen in den klassischen Niedriglohnbranchen auf erhebliche Mindestlohneffekte hin«. Nach den Daten des SOEP seien zwischen 4,8 und 5,4 Millionen Menschen betroffen, die im Jahr 2014 einen Stundenlohn unter 8,50 Euro hatten.

Besonders Menschen in Dienstleistungsberufen und Ostdeutsche hätten vom Mindestlohn profitiert, schreiben die Experten. Die Bruttostundenlöhne haben im dritten Quartal 2015 durchschnittlich um zwei Prozent höher als im Vorjahresquartal gelegen - 1,7 Protest im Westen und 3,6 Prozent im Osten. Die stärksten Zuwächse erzielten danach ungelernte Frauen in Ostdeutschland.

Im Vergleich der Branchen stiegen die Entgelte besonders im ostdeutschen Einzelhandel, in Wäschereien oder beim Wach- und Sicherheitsdienst. Die vom Mindestlohn am stärksten betroffene Branche ist das Gastgewerbe. Hier legten die Löhne im Schnitt um 2,9 Prozent zu - im Osten um 8,6 Prozent.

Nicht eingetreten ist die von vielen Wirtschaftsforschern befürchtete Vernichtung von Arbeitsplätzen. Im Gegenteil habe die Beschäftigung in Deutschland kontinuierlich zugenommen. Lediglich die Zahl der Minijobs sei stark zurückgegangen, »wobei hier ein erheblicher Anteil in sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze umgewandelt wurde«, schreiben die Autoren weiter. Letztlich also ein zu begrüßender Effekt - wenngleich vermutlich nicht für die Kapitalseite.

Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) führte seinerseits eine Branchenumfrage in bundesweit knapp 500 Betrieben durch. Ergebnis: Fast drei Viertel verzeichneten seit dem 1. Januar 2015 gestiegene Personalkosten. Dazu kämen für knapp zwei Drittel der Betriebe gestiegene Kosten für Lieferanten und Dienstleister. Beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern beklagen nach Angaben der dpa neun von zehn Betrieben gestiegene Personalkosten durch den Mindestlohn. Für eine Auswertung der Auswirkungen auf Arbeitsplätze sei es aber noch zu früh, hieß es in der Mitteilung des Dehoga-Bundesverbandes weiter. Der Mindestlohn sei in einer konjunkturstarken Zeit eingeführt worden. Der Dehoga will nach wie vor nicht ausschließen, dass in wirtschaftlich schlechteren Zeiten doch noch Jobs wegen des Mindestlohnes verloren gehen.

Doch auch hier widerspricht die Wissenschaft. Die nächste Krise werde vermutlich das exportorientierte Gewerbe betreffen, »und da werden vermutlich auch Jobs verloren gehen«, sagte Joachim Möller, Ökonom und Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in seinem Vortrag am Donnerstag. Aber das habe nichts mit dem Mindestlohn zu tun, da im produzierenden Gewerbe in der Regel mehr als 8,50 Euro gezahlt würden.

Nach Zahlen der Bundesarbeitsagentur ist die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisse im Gastgewerbe 2015 um 6,6 Prozent gestiegen. Im Fokus der Kritik vieler Betriebe stehe indes die neu geschaffene »Mindestlohn-Bürokratie«, konkret die vorgeschriebene Dokumentation der Arbeitszeiten. Doch wie solle ein auf der Arbeitsstunde basierender Mindestlohn erfasst werden, wenn man die geleisteten Arbeitsstunden nicht dokumentiert? Man brauche »nicht viel Gehirnschmalz«, um darauf zu kommen, sagte Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD), die nach Möller in die Bütt ging. Auch sie bezeichnete den Mindestlohn als Erfolgsgeschichte. Auch wenn es Ausnahmen gebe, sei der Kern nicht angetastet. Überdies würden die Ausnahmen beispielsweise für Langzeitarbeitslose sehr selten angewendet.

Auch die unter anderem für die Dehoga-Betriebe zuständige Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) hat eine Studie in Auftrag gegeben. Das Ergebnis kommentierte NGG-Chefin Michaela Rosenberger am Mittwoch: »Der gesetzliche Mindestlohn hat sein erstes Praxis-Jahr bestanden - und zwar mit Bravour. Alle Fakten, die wir analysiert haben, sprechen dafür, dass der feste Lohnsockel einen guten Effekt für Beschäftigung und Wirtschaft hat.«

»Die Einführung des Mindestlohnes war mitnichten ein Geschenk«, sagte Rosenberger. »Wir waren es, die 15 Jahre für die Einführung gekämpft haben.« Konkret waren das die NGG zusammen mit ver.di - anfangs auch gegen den Widerstand in DGB-Schwestergewerkschaften, die den gesetzlichen Eingriff in die Lohnpolitik prinzipiell ablehnten. Doch die verheerende Situation im Gastgewerbe, im Bäckereihandwerk und besonders in den Schlachthöfen machte das Gesetz notwendig. Die NGG fordert angesichts der positiven Bilanz und der guten Beschäftigungsentwicklung die rasche Anhebung des Mindestlohnes. Beide Gewerkschaften fordern die Anhebung auf zehn Euro, doch das könnte noch dauern.

Ver.di-Chef Frank Bsirske nannte den Mindestlohn einen »strategischen Erfolg der deutschen Gewerkschaftsbewegung«. Er sei nach Veröffentlichung der Zahlen durch das WSI »ehrlich überrascht« gewesen darüber, dass es so viele Menschen gebe, die potenziell vom Mindestlohn profitieren. Entsprechende Prognosen vor Einführung seien um einiges niedriger gewesen. Gründe für die in den letzten zwei Jahrzehnten immer ungleicher verteilten Löhne sieht Bsirske in der Tariflucht, damit verbunden die Erosion des gesamten Tarifsystems, Mitgliedschaften in Unternehmerverbänden ohne Tarifpflicht (OT-Mitgliedschaften) und mit der Agenda 2010 »eine Politik, die das alles auch noch viel einfacher machen wollte«.

Und der Kampf geht weiter. Damit der Mindestlohn auch eingehalten werde, müssten die Ausnahmen abgeschafft werden, sagte der ver.di-Chef. Im Sommer tritt die Mindestlohnkommission zusammen. In dem aus Gewerkschafts- und Unternehmerseite bestehenden Gremium soll eine »Anpassung« des Mindestlohnes beraten werden, die dann Anfang 2017 in Kraft treten wird. Auch deshalb werden vermutlich in der nächsten Zeit die aus dem Unternehmerlager kommenden Schwarzmalereien wieder mit mehr Verve und Lautstärke vorgetragen werden. Das Wettern gegen Dokumentationspflichten und Acht-Stunden-Tag hat längst begonnen; frei nach dem Motto: Wenn man beständig mit dem Kopf gegen die Wand rennt, entsteht eine Tür.

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