Kniefall vor dem Warenfetisch
Mit der Debatte über einen britischen EU-Austritt rückt ein soziales, solidarisches Europa weiter in die Ferne
War vor gut einem Jahr das Grexit-Spiel mit Griechenland in der Hauptrolle noch große Tragödie, so kann das Theater um den Brexit, den von David Cameron angedrohten Austritt Großbritanniens aus der EU, allenfalls als Schmierenfarce gewertet werden. Am Ende des nächsten EU-Gipfels werden sich alle Akteure auf der Brüsseler Bühne in den Armen liegen und Einigkeit verkünden. Das Spiel ist aus, geht freudig nach Haus. Nach mediengerechtem heroischen Ringen hat Albion die widerspenstige EU zähmen können.
Mit den abgepressten Zugeständnissen kann der britische Sieger vor sein Wahlvolk treten und beim angekündigten Referendum für ein Ja zur britannisierten EU werben. Allerdings kann es passieren, dass der inzwischen losgelassene Referendumsbesen von den Zauberlehrlingen in Brüssel und London nicht mehr gestoppt werden kann. Dann hat die EU neben Flüchtlingskrise, Russlandsanktionen, Syrienkrieg, Klimakollaps und TTIP noch eine Brexit-Abwicklung am Hals. Das könnte gut 60 Jahre nach den Römischen Verträgen jede Feier verhageln.
Warum können die britischen Konservativen die EU und alle ihre Mitgliedsländer erpressen und die Zustimmung zum Abbau sozialer Rechte der Arbeitnehmer (»EU-Ausländer« genannt) in dem devoten Brief von Donald Tusk an die Mitglieder des Europäischen Rates vom 2. Februar einholen? Die Antwort ist einfach und brutal: Weil die EU eine Waffe im Klassenkampf von oben ist, weil die britischen Konservativen die Speerspitze des europäischen Neoliberalismus sind, weil Ratspräsident Tusk und mit ihm die Mehrheit der Kommission sowie die Mehrzahl der politischen Eliten aus den Mitgliedstaaten hocherfreut über die britischen Konditionen für ihren Verbleib in der EU ist. Mit ihrem Ansinnen, Sozialleistungen für mobile Arbeitnehmer zu beschneiden, die aus dem einen in ein anderes nationales Sozialsystem wechseln, die Flüchtlingszahlen zu begrenzen, die Wettbewerbsfähigkeit der EU im »Wettlauf der Besessenen« (Paul Krugman) gegen die Konkurrenz auf den Weltmärkten zu stärken, indem Arbeitskosten gesenkt werden, rennen die britischen Konservativen bei ihren Brüdern im Geiste in anderen EU-Ländern offene Scheunentore ein. Wer hätte gedacht, dass die Camerons, Tusks, Junckers, Schulzens und tutti quanti dem Waren- und Kapitalfetisch so unverfroren und devot die Füße küssen?
Der Linken in Europa ist es bislang nicht gelungen, die Scheunentore des Neoliberalismus zu schließen. Gewerkschaften verlieren durch Arbeitslosigkeit, informelle und prekäre Beschäftigung ihre Mitglieder. Dieser Trend ist zwar durch neue Organisationsformen verlangsamt, aber nicht unterbrochen worden. Die Tendenzen der Individualisierung erschweren kollektive Aktionsformen und den Widerstand gegen die Vereinzelung, die noch ideologisch als neue Autonomie vermarktet wird.
Die EU fing als Wirtschaftsunion an, wurde 1968 zur Zollunion, ist mit dem Euro um die Jahrhundertwende zur Währungsunion vertieft worden, seit kurzem ist sie auch Bankenunion. Jacques Delors hatte Ende der 1980er Jahre schon erkannt, dass es den Europäern schwer fallen dürfte, »sich in einen Gemeinsamen Markt zu verlieben«, und versuchte daher den EU-Ökonomismus durch eine Sozialunion zu mildern. Die »vier Freiheiten« des Artikels VIII der Römischen Verträge sollten nicht nur Marktfreiheiten sein. Doch ein unfreundliches Europa, ein Hayeksches Monster ist herangewachsen, das mit den Jahren immer hässlicher geworden ist.
Friedrich August von Hayek gilt als Papst des Neoliberalismus. Ihn plagte am Ende des Zweiten Weltkriegs seine Horrorvorstellung eines Nachkriegseuropas mit Gemeineigentum, Verstaatlichung, Wirtschaftsplanung und weitgehender Mit- bzw. Selbstbestimmung in der Wirtschaft. Forderungen dieser Art waren ja selbst in christlich-konservativen und nicht nur in sozialistischen oder gar kommunistischen Parteien en vogue, zum Beispiel im Ahlener Programm der CDU von 1947. Also entwickelte er die pfiffige Idee, alle Liberalisierungs- und Deregulierungsmaßnahmen in internationalen Verträgen und nicht nur im nationalen Recht zu verankern. Dann wäre es Vertragsbruch, der international geahndet werden kann, wenn eine Liberalisierungsmaßnahme durch irgendeine Linksregierung zurückgenommen oder Sozialisierungsmaßnahmen ergriffen würden.
Das hat jahrzehntelang funktioniert, das hat der EU Sinn vermittelt. Sozialistische Ideen sind Ideen geblieben und haben wegen ihrer Folgenlosigkeit den einstigen Charme verloren. Dennoch: In der EU leben heute 510 Millionen Bürgerinnen und Bürger, die Rechte auf Teilhabe an den Entscheidungsprozeduren auf allen Ebenen beanspruchen, auf denen über ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen entschieden wird. Es hat sich inzwischen auch in Europa herumgesprochen, dass die Ungleichheit der Vermögens- und Einkommensverteilung immer krasser wird und dringend der politischen Korrektur bedarf. Also fordern auch sie angemessene Teilhabe an den materiellen Gütern dieser Welt. Das wäre kein Schritt in Richtung Sozialismus, aber doch zu etwas mehr Gerechtigkeit. Diesen Schritt machen sie immer häufiger kollektiv in neuen sozialen Bewegungen und Organisationen statt in den traditionellen politischen Parteien.
Die soziale Lage und daher auch die politischen Verhältnisse haben sich in Europa verändert, auch die zwischen EU und nationalen Mitgliedsstaaten, zwischen Markt, Politik und Zivilgesellschaft, zwischen freier Wirtschaft und sozial sowie ökologisch verpflichtetem Staat. Es zeigt sich wie schon so oft in der Geschichte der kapitalistischen Produktionsweise, dass Profiterzielung auf freiem Markt und soziale Bindung in »moralischer« oder solidarischer Ökonomie in Widerspruch zueinander stehen. Konflikte sind unvermeidlich und daher auch die Kämpfe um eine sozial-ökologische Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft.
Wenn die Briten auch nach den Zugeständnissen des EU-Ratspräsidenten gegenüber Cameron mit 45 zu 36 Prozent für den Ausstieg aus der EU votieren, weil da zu viel Staatsinterventionismus herrscht, ergreifen sie Partei gegen ein soziales Europa, auch gegen ein soziales Vereinigtes Königreich. Offenbar haben die Briten die Euro-Europäer auf dem Kontinent missverstanden. Diese haben über Camerons Konditionalität gejubelt, vielleicht nicht so obszön lauthals wie Alexander Graf Lambsdorff (FDP), aber doch mit zurückhaltender Zufriedenheit. Nachdem sie Griechenland nicht zum Grexit treiben konnten, wollen sie wenigstens den Brexit abwenden.
Zwischen den beiden Exits besteht ein wichtiger Unterschied: England könnte seine Währung, das Pfund, nach dem Brexit behalten, während Griechenland nach dem Grexit eine neue Währung ausgeben und stärken müsste. Und das in einem wirtschaftsliberal feindlichen Umfeld, in dem die zarten Sprossen von sozialer oder ökologischer Nachhaltigkeit von den europäischen Schrebergärtnern unverzüglich gejätet werden. Nach einem Brexit, oder wenn unter der Androhung des Brexits die neoliberale Konditionalität, wie Tusk versprochen hat, radikalisiert in ganz Europa fortgesetzt wird, wäre das soziale, das solidarische Europa noch ein Stück weiter in die Ferne gerückt.
Politische Schrebergärtner brauchen vor allem zwei Qualifikationen: Sie dürfen erstens nicht vergessen, die nationale Fahne über ihrer Parzelle zu hissen. Auch ein Staat im vereinten Europa bleibt Nationalstaat; das »gemeinsame Haus Europa« ist eine sympathische Idee, die sich vor der brutalen Konkurrenz auf Märkten immer wieder blamiert. Zweitens müssen sie handwerklich in der Lage sein, Zäune zu ziehen, um Eindringlinge in die Kolonie der 28 europäischen Kleingärten abzuwehren.
Weil sie die gegenwärtige Generation von Europäern für eigentlich vernunftbegabte Wesen halten, werden unsere Nachfahren nur schwer verstehen können, dass wir die Märkte für Kartoffeln, Öl und Kupfer, für Autos, Computer und aberwitzig spekulative Finanzprodukte, also für die Malware des finanzialisierten Europas, weiter öffnen, liberalisieren und deregulieren - und dass wir gleichzeitig die Arbeitsmärkte schließen, hartherzig und kaltschnäuzig Grenzen für Flüchtlinge und Migranten dicht machen, den freien Personenverkehr in der Schengen-EU unterbinden.
Über den Wolken einer transatlantischen Freihandelszone und einer neoliberal konditionierten EU darf die Freiheit wohl grenzenlos sein - die des Kapitals jedenfalls. In den Niederungen des Produktionsfaktors Arbeit sowie der zerstörten Lebenswelten von Flüchtlingen und Migranten zerschneidet Rasierklingendraht die Landschaft.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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