»Die Schmerzen gehen nie weg«
Gehirnerschütterungen werden im Sport noch immer unterschätzt und verschwiegen
Stefan Ustorf schaut zu den Spielern auf dem Eis des Berliner Wellblechpalasts hinunter und streicht mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand immer wieder über seinen Kinnbart. Augenkontakt zum Gesprächspartner sucht er so gut wie nie. Das Gesprächsthema ist auch nicht einfach. Wer redet schon gern mit einem Fremden über seine Krankheiten. »Außer meiner Frau und meinem Doktor weiß niemand, wie schlecht es mir wirklich geht«, sagt Ustorf und fügt dann so überraschend offen wie erschreckend hinzu: »Ich habe jeden Tag Probleme, ich bin in Behandlung, jeden Tag. Ich nehme Medikamente, doch es geht nicht weg.«
Ustorf war 21 Jahre lang Eishockeyprofi. Sein Arzt schätzt, dass er in dieser Zeit zwischen 20 und 25 Gehirnerschütterungen erlitten hat. »Diagnostiziert wurden nur sechs oder sieben davon«, sagt Ustorf, heute Sportdirektor bei den Eisbären Berlin. Irgendwann war es eine Erschütterung zu viel, und er musste 2013 seine Karriere beenden. Noch immer leidet er - wie seine Familie - unter »Kopfschmerzen Schwindel, Übelkeit und extremen Temperamentsschwankungen«, verrät er. »Meine Ärzte sagen: Mit meiner Krankengeschichte und den Symptomen ist die Möglichkeit, dass sich CTE entwickelt, sehr sehr groß.«
Die Abkürzung steht für Chronisch-traumatische Enzephalopathie, eine degenerative Gehirnerkrankung, verursacht durch wiederholte Stöße gegen den Kopf. Viele Sportler leiden daran, viele haben sich sogar das Leben genommen. »Meine Familie war ausschlaggebend dafür, dass ich damit klargekommen bin«, sagt Ustorf heute. Das klingt nach Heilung und ist doch nur Akzeptanz. »Ich weiß nicht, wie es mir in fünf Jahren gehen wird. Ich weiß ja nicht mal, wie es mir morgen gehen wird. Es ist so, wie es ist.«
In Deutschland wird kaum über Gehirnerschütterungen im Sport gesprochen. In den USA immer häufiger, seitdem Forscher in Boston seit 2006 die Langzeitfolgen von Gehirnerschütterungen untersuchten. Ehemalige Football-Spieler überließen ihnen nach dem Tod ihre Gehirne, und Untersuchungen zeigten, dass 87 von 91 untersuchten NFL-Spielern an CTE litten.
Die National Football League versuchte jahrzehntelang zu widerlegen, dass Football die Todesfälle verursachte. Die Spieler seien schließlich durch Helme geschützt. Diese verhindern jedoch nur einen Bruch des Schädelknochens, nicht aber den Zusammenstoß von Gehirn und Schädeldecke. Heilt die Erschütterung nicht aus, reißen durch weitere Schläge die Nervenbahnen, und das so genannte Tauprotein tritt aus. Dies trocknet und verfestigt die Hirnzellen. Das Gehirn wird »einbetoniert«. Kopfschmerzen, Gedächtnisverlust, Depression, Stimmungsschwankungen, Aggressivität, Konzentrationsschwäche, Suizidgefahr, Sprachaussetzer, Demenz und Paranoia sind mögliche Symptome.
Die Todesrate von fast 100 NFL-Stars wurde irgendwann zu groß. Manche schossen sich bewusst ins Herz, statt in den Kopf, damit ihr Gehirn später noch auf CTE untersucht werden konnte. Mehr als 4500 ehemalige Spieler verklagten schließlich die Liga, weil Gefahren bewusst verschwiegen worden seien. Nach langem Streit einigte man sich auf eine Zahlung von 75 Millionen US-Dollar für medizinische Untersuchungen, zehn Millionen für die Forschung und Aufklärung und einen nach oben offenen Entschädigungsbetrag für alle Spieler mit Hirnschäden. Insgesamt könnten sich die Zahlungen in den kommenden 65 Jahren auf mehr als eine Milliarde Dollar summieren.
Das klingt viel, doch die NFL erhält allein von Sponsoren genauso viel in nur einem Jahr und vermied es in der Vereinbarung, ihre Schuld einzugestehen. Daher hielten 200 Spieler an der Klage fest. Bis zur endgültigen Klärung wird kein Cent gezahlt.
Die NFL führte 2009 ein strenges Protokoll ein, um Gehirnerschütterungen schnell zu diagnostizieren und sicherzustellen, das sie auskuriert werden. 2013 wurde es abermals verschärft, doch im Super Bowl 2015 spielte Julian Edelman von den New England Patriots weiter, obwohl er nach einer krachenden Kollision gleich mehrere jener Symptome aufwies, die einen Spielausschluss hätten nach sich ziehen müssen. Edelman wurde später auf eine Kopfverletzung untersucht. Ob dabei eine Gehirnerschütterung diagnostiziert wurde, durfte er aufgrund einer Teamvereinbarung aber nicht sagen. So wird über Regelverstöße geschwiegen, während die Liga selbst behauptet, dass die Zahl der Hirn-Traumata dank der neuen Regularien stark gefallen sei.
Zudem zeigen viele Spieler kein Problembewusstsein. Als sie 2014 befragt wurden, ob sie trotz Gehirnerschütterung den Super Bowl spielen würden, sagten 85 Prozent Ja. Sie gieren nach der Trophäe, die den neuen Vertrag und das große Geld bringt.
Probleme mit Gehirnerschütterungen hat jedoch nicht nur der American Football. Ein Vergleich von Schwimmern und Profifußballern an der Uni München kam 2012 zum Ergebnis, dass schon bei Gehirnen von 20-jährigen Fußballern deutliche Veränderungen feststellbar sind - vermutlich wegen der vielen Kopfbälle. »Betroffen seien Regionen, die für die Aufmerksamkeit, komplexe Denkvorgänge und das Erinnerungsvermögen zuständig sind«, befand Dr. Inga Katharina Koerte damals.
Boxer werden nach einem K.o. für zwei Monate gesperrt. Und doch wurde beim olympischen Boxen der Kopfschutz abgeschafft, um für das Fernsehen attraktiver zu werden. Ein weiteres Argument war sogar ein sicherheitsrelevantes. Ohne Kopfschutz sehe man die Schläge des Gegners besser kommen, und so könne man sie auch besser vermeiden.
Dass es Hirnschäden auch im Eishockey gibt, weiß Stefan Ustorf allzu gut. Seine Spieler auch. »Sie sind sensibilisiert. Ich bin ja nicht der einzige Fall«, sagt er. Auf Olympia würden sie wohl trotzdem nicht verzichten.
Das komplette Interview mit Stefan Ustorf lesen Sie unter: dasND.de/ustorf
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