Es gibt keine harmlose Strahlendosis
Auch im sogenannten Normalbetrieb emittieren Atomanlagen Radioaktivität
Das erste Standardwerk der westdeutschen Anti-AKW-Bewegung erschien 1975. »Zum richtigen Verständnis der Kernindustrie - 66 Erwiderungen«, so der Titel. Atomkraftkritische Physiker der Universität Bremen reagierten damit auf das Reklameheft der Atomlobby »66 Fragen, 66 Antworten: Zum besseren Verständnis der Kernenergie«.
Die Bremer zerpflückten Behauptungen der Atomkraftfreunde zu Reaktorsicherheit, Unfallgefahren und Wirtschaftlichkeit. Und sie widerlegten das Argument, wonach radioaktive Strahlung unterhalb eines bestimmten Grenzwertes harmlos sei. Die offizielle Lehrmeinung ging damals davon aus, dass keine Gefahr durch die von den Atomkraftwerken im Normalbetrieb emittierte radioaktive Niedrigstrahlung bestehe.
Durch die »66 Erwiderungen« war die These von den Gefahren der Niedrigstrahlung in der Diskussion. Einer der Autoren, der Physiker Jens Scheer, verbreitete sie bei Veranstaltungen in der Bundesrepublik: »Jedes radioaktive Ereignis, jedes Becquerel kann Zellveränderungen und Krebs auslösen.« Scheer wurde wegen seiner Gegnerschaft zur Atomkraft angefeindet und wegen der Mitgliedschaft in der KPD (AO) kriminalisiert. Er verlor vorübergehend seine Professur an der Universität, kam vor Gericht. 1994 starb er. Seine Thesen lebten aber weiter - und wurden zunehmend unterstützt.
2007 zeigte eine Studie des Deutschen Kinderkrebsregisters, dass Kinder im Umkreis von Atomkraftwerken vermehrt an Leukämie erkranken. 2014 stellten Forscher fest, dass schon leicht erhöhte Hintergrundstrahlung die Gefahr von Leukämie und Hirntumoren bei Kindern verdoppelt.
Die bisher größte Untersuchung zum Thema belegte 2015 ebenfalls: Es gibt keine unschädliche Dosis. Schon geringste Belastungen durch radioaktive Strahlung reichen aus, um das Leukämie- und Lymphkrebsrisiko zu erhöhen. Ein internationales Wissenschaftlerteam hatte Daten von rund 308 000 Beschäftigten ausgewertet, die in Frankreich, Großbritannien und den USA mindestens ein Jahr lang in Atomkraftwerken gearbeitet hatten.
Weil die Arbeiter Dosimeter tragen müssen, ließ sich errechnen, welcher radioaktiven Belastung sie ausgesetzt waren. Die Forscher ermittelten, wie viele der Arbeiter an Leukämie oder einem Lymphom erkrankten und wie viele daran starben. Die Daten reichen bis zu 60 Jahre weit zurück. Trotz der relativ geringen Strahlenbelastung starben im Untersuchungszeitraum 531 Arbeiter an Leukämie, 814 an Lymphkrebs und 293 an anderen Krebsarten. Das sind deutlich mehr, als zu erwarten war: Im Durchschnitt liegt die Leukämierate bei 4,3 pro 10 000 Menschen, nur 134 Arbeiter hätten an Blutkrebs sterben dürfen.
Zum sogenannten Normalbetrieb der AKW gehören auch Brennelementewechsel. Weil dabei der Reaktordeckel geöffnet wird, gelangt vergleichsweise viel Radioaktivität ins Freie. IPPNW-Vorstandsfrau Angelika Claußen rät Schwangeren und Müttern während dieser Phasen zur Flucht: »Wenn ich kleine Kinder hätte, würde ich in den Urlaub fahren.«
Auch am Atommüllstandort Gorleben hat sich die Niedrigstrahlung messbar ausgewirkt: Seit der Einlagerung der ersten Castorbehälter mit hoch radioaktivem Abfall ins Gorlebener Zwischenlager wurden in der Region deutlich weniger Mädchen geboren als zuvor - und als im bundesweiten Durchschnitt. Von 1981 bis 1995 kamen rund um Gorleben 6939 Jungen und 6922 Mädchen zur Welt, das Geschlechterverhältnis lag bei 1,0025 zu 1. Für den Zeitraum 1996 bis 2010 springt es auf 1,0865:1. 12 047 Jungen stehen nur 11 088 Mädchen gegenüber, fast tausend zu wenig. Der erste Castortransport nach Gorleben fand im April 1995 statt.
Für eilends auf den Plan gerufene Gegengutachter bleiben Zusammenhänge mit dem Atommüll »rein spekulativ«. Sie geben sich überzeugt, dass der Effekt keinesfalls durch das Castor-Lager erklärt wird. Stattdessen listen sie Umstände auf, die ebenfalls zu »verlorenen Mädchen« führen könnten: vom »Körpergewicht der Mutter« über »Chemikalien« bis zu »Gravitationskräften«.
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