Lebenswert für alle
Das Urbuch für stadtpolitische Initiativen, Henri Lefebvres »Das Recht auf Stadt«
Das Schlagwort »Recht auf Stadt« spielt in linken Bewegungen eine große Rolle, denn in der neoliberalen Stadt haben Proteste gegen Aufwertung und Ausgrenzung Hochkonjunktur. Das reicht vom kreativen Guerilla-Gardening über organisierten Mieterinnenprotest, kämpferische Kampagnen gegen Zwangsräumungen bis hin zu aktuellen Auseinandersetzungen um neue Soziale Zentren. Die überregionale Mobilisierungsfähigkeit der linken Szene in Berlin dürfte kürzlich sogar die Veranstalter überrascht haben: Nach Polizeirazzien in der Rigaer Straße im Bezirk Friedrichshain protestierten mehr als 4000 Menschen gegen das staatliche Vorgehen. Zugleich richtet sich die Demonstration gegen die Umgestaltung des Stadtteils nach Bedürfnissen von Besserverdienern und Investoren. All diese unterschiedlichen AktivistInnen - von den Rentnern, die ihren Seniorentreff verteidigen, bis zum Künstler, der bezahlbare Ateliers sucht - eint die Forderung nach einem »Recht auf Stadt«.
Im Gegensatz zu den verbreiteten Anti-Bewegungen wird hiermit ein positiver Anspruch formuliert, der erstmals im Protestjahr 1968 auftauchte. Der französische Philosoph und Stadtsoziologe Henri Lefebvre stellte ihn damals in seinem Buch »Le droit à la ville« auf, das nun, nach fast 50 Jahren, erstmals in einer deutschen Übersetzung erscheint. Unter dem Recht auf Stadt versteht er ein Recht auf Zentralität, auf den Zugang zu den Orten des gesellschaftlichen Reichtums, der städtischen Infrastruktur und des Wissens und das Recht auf Differenz. Dieses Recht beschränkt sich nicht auf die konkrete Benutzung städtischer Räume, sondern umfasst ebenso den Zugang zu politischen Entwicklungsdebatten.
Lefebvres gut 200-seitiger philosophischer Text ist keine leichte Kost, simple Strategien zu widerständigen Praktiken finden sich darin nicht. Vielmehr analysierte der 1901 geborene Lefebvre die Urbanisierungsprozesse Ende der 1960er Jahre, als Stadtzentren in touristische Orte umgebaut wurden und Wohnviertel auf der grünen Wiese am Stadtrand entstanden. Lefebvre machte in dieser Entwicklung eine Zerstörung des städtischen Lebens aus, das seiner Meinung nach ebenso kreatives wie subversives Potenzial enthält, um gegen ökonomische und politische Zwänge anzukämpfen. In der Aufwertung der Stadt geht es laut Lefebvre, der an Marx entlang argumentiert, vor allem um den Tauschwert, kaum mehr um den Gebrauchswert. Eine lebenswerte Umwelt für ihre Bewohner spielt dabei allenfalls eine untergeordnete Rolle. Die Stadt wird zur Ware, nicht nur der Grund und Boden, sondern auch der soziale Raum wird verkauft. Gleichzeitig finden soziale Vertreibungsprozesse statt. Mit dieser Analyse kommt Lefebvre den aktuellen Debatten um Stadtaufwertung und Gentrifizierung sehr nahe. Inwieweit an sich kritische Praktiken wie Hausbesetzung oder die künstlerische Bespielung von Stadtteilen die Aufwertung erst möglich machen, wird auch heute immer wieder kontrovers diskutiert.
Lefebvres, der in der Résistance gegen die Nazis kämpfte und wegen seiner Kritik an der Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes aus der Kommunistischen Partei geworfen wurde, lehrte Soziologie an der Universität in Nanterre, wo die Ereignisse des Pariser Mai 1968 ihren Ausgang nahmen. Seine Forschungsarbeiten wurden erst in den 90ern ins Englische übersetzt, in den 2000er Jahren setzte auf akademischer Ebene ein regelrechtes Lefebvre-Revival ein. Zur selben Zeit begannen sich auch politische Aktivisten auf das Recht auf Stadt zu berufen. Hierzulande spielt das Schlagwort besonders in Hamburg eine Rolle. Dort gründete sich im September 2009 nach der Besetzung des Gänge-Viertels das »Recht auf Stadt«-Netzwerk. Auch in anderen Ländern wird weltweit das »right to the city« und das »derecho a la ciuadad« postuliert. Von den jüngeren Krisenprotestbewegungen in den USA, Spanien, Griechenland oder Israel wurde diese Forderung erhoben.
Aber Henri Lefebvre ging es nicht allein um ein besseres oder anderes städtisches Leben. Für ihn war dieses Recht mit dem Gedanken eines weiterführenden revolutionären Prozesses verbunden.
Henri Lefebvre: »Das Recht auf Stadt«, Nautilus-Verlag, 224 S., 18 €.
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