Knapp an einer Katastrophe vorbei
Behörden und Betreiber vertuschten offenbar schwere Panne im AKW Fessenheim
»Schon sickert der lautlose Strahlentod durch die Risse in seinem Gefängnis …«, besang der Liedermacher Walter Moßmann schon 1979 Gefahren durch das französische Atomkraftwerk Fessenheim. Seit mehr als 38 Jahren produzieren die beiden am Rheinseitenkanal gelegenen Reaktoren Strom und Atommüll, immer wieder sorgte das älteste AKW Frankreichs durch Pannen und Störfälle für Schlagzeilen. Nicht öffentlich bekannt, weil gezielt vertuscht, war der bislang wohl gravierendste Zwischenfall, der sich am 9. April 2014 ereignete. Recherchen des Westdeutschen Rundfunks (WDR) und der »Süddeutschen Zeitung« brachten die Ereignisse am Freitag ans Licht.
Den Berichten zufolge hatte ein Wassereinbruch einen Teil des Leitstandes außer Kraft gesetzt. Rund 3000 Liter Wasser sollen durch Kabelummantelungen unter anderem in Schaltschränke geflossen sein, in denen die Steuerung der Sicherheitstechnik untergebracht war. Die Steuerstäbe in Reaktorblock 1 seien zeitweise nicht zu manövrieren gewesen, eines der beiden Systeme zur Reaktorschnellabschaltung sei ausgefallen. Ein Krisenstab habe deshalb entschieden, den Reaktor durch Einleitung von Borsäure in das Kühlwasser schnell herunterzufahren. Die Säure ist gewissermaßen die flüssige Variante für Notfälle: Sie soll die Kettenreaktion der Uranspaltung unterbrechen, indem sie die freigesetzten Neutronen wegfängt.
Die französische Atomaufsichtsbehörde ASN hatte den Vorfall laut den Medien gegenüber der Öffentlichkeit und der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) heruntergespielt und wesentliche Details unterschlagen. So habe die Behörde weder den Ausfall der Steuerstäbe noch die eingeleitete »Not-Borierung« gemeldet. Erst aus einem Schreiben, das ASN einige Tage später an die Kraftwerksleitung geschickt habe, gehe »das wahre Ausmaß des Unglücks« hervor.
Die Zugabe von Bor zum Kühlwasser sei »ungewöhnlich und deutet tatsächlich auf einen schweren Zwischenfall hin«, sagte der Göttinger Chemieprofessor Rolf Bertram dem »nd«. »Das geschieht nur, wenn alle anderen Möglichkeiten zur Steuerung eines Reaktors ausgeschöpft sind. Wenn tatsächlich die Steuerstäbe nicht manövrierbar waren, stand man kurz vor einer Katastrophe.«
Auch der Reaktorsicherheitsexperte Manfred Mertins, der bereits 2015 die Risiken des AKW Fessenheim bewertete, kommt laut »SZ« zu dem Schluss, dass es sich bei dem Vorfall um ein »sehr ernstes Ereignis« gehandelt hat. Ihm sei »kein Fall bekannt, wo ein Leistungsreaktor hier in Westeuropa störfallbedingt durch Zugabe von Bor abgefahren werden musste«. Für mehrere Minuten sei »die Temperatur im Reaktorkern aus dem Ruder gelaufen«.
Mertins sagte, dass schon der Ursprung des Störfalls erhebliche Mängel in den Sicherheitsstrukturen des AKW aufzeige. Alle Atomkraftwerke in der EU seien nach Fukushima im Rahmen eines Stresstests angeblich auf den Schutz vor interner Überflutung geprüft worden. In Fessenheim sei Wasser jedoch in mehrere Räume und in Schaltkästen geflossen. So etwas dürfe auf keinen Fall passieren.
Wie lange das AKW noch am Netz bleibt, ist unklar. Zwar hat Frankreichs Präsident François Hollande wiederholt versprochen, die Anlage noch in seiner bis Mai 2017 laufenden Amtszeit abzuschalten. Konterkariert wurde das jedoch durch jüngste Regierungsäußerungen, nach denen die französischen Reaktoren bis zu zehn Jahre länger als zunächst geplant laufen sollen. Das Bundesumweltministerium äußerte sich unzufrieden mit der Atompolitik des Nachbarlandes. Ministerin Barbara Hendricks (SPD) habe bereits vor einem Jahr die Stilllegung dieses ältesten französischen Atomkraftwerkes gefordert, sagte ein Sprecher.
Die rheinland-pfälzische Energieministerin Eveline Lemke (Grüne) reagierte »entsetzt« auf die Nachrichten aus Fessenheim und forderte die »sofortige Abschaltung«. Von einem »Vertuschungsversuch, der eine fast kriminelle Energie zeigt«, sprach die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europaparlament, Rebecca Harms. Kommentar Seite 4
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