Homer heißt hier Humor
Nach Geschichten über das Taxigewerbe und Neukölln wendet sich Uli Hannemann nun der griechischen Sagenwelt zu
Nun also der mythische Kosmos des antiken Griechenlands. Uli Hannemann und die göttlichen Helden, die fabelhaften Mischwesen zwischen Hades und Olymp? Das Sujet überrascht auf den ersten Blick. Hat sich der gebürtige Braunschweiger Hannemann, der längst zum künstlerischen Inventar Berlins und im Besonderen Neuköllns gehört, doch bisher als Liebhaber des Abseitigen gezeigt.
Seine Prosaminiaturen erzählten voller Ironie Geschichten des über sich selbst aufgeklärten Prekariats, wenn sie nicht gleich als Wanderungen durch eine Dantesche Hölle daherkamen, die Welt des so genannten Lumpenproletariats. Dabei hantierte er mit Mustern des deutschen Pop mit Elementen bürgerlicher Erzähltraditionen und radikaleren Pulp-Einflüssen der amerikanischen Szene der 1960er Jahre. So erschrieb sich Hannemann seinen Ruf als unterhaltsamer Deuter des Sozialpathologischen. Doch es ist nur ein scheinbar weiter Weg von den Unterschichthelden unserer Tage zu den griechischen Heroen.
Bisher waren die Protagonisten seiner Momentaufnahmen aus dem beschädigten Leben vor allem Kleinkriminelle, Säufer und autochthone Kampfhundehalter auf der einen und zugezogene Yuppies, Schnösel und Hipster auf der anderen Seite. Der Titel der eben erschienenen Hannemannschen Persiflage der antiken Göttersagen - »Die megascharfe Maus von Milo« - legt den Verdacht nahe: In Hannemanns Lesart der Erzählungen des Altertums geht es ebenfalls wenig feinsinnig und sublim zu.
Der Satiriker hat Herakles von Theben zu seinem Helden auserkoren. Dem Halbgott wurden der Überlieferung nach für den im magisch herbeigeführten Wahn begangenen Mord an seiner Frau Megara und den gemeinsamen Kindern zwölf heroische Aufgaben im Dienste des Königs Eurystheus auferlegt. In der Hannemannschen Variante sind es vierundzwanzig Arbeiten, die Anlass zu einem Streifzug an alle möglichen und unmöglichen Orte des bunten Sagen-Kosmos bieten. Mit viel Freude an wortspielerischem und lautmalerischem Witz schickt der Schriftsteller seinen Helden auf eine Wahnsinnstour, in deren Verlauf sich zeigt: Vom Halbgöttlichem zum Halbseidenen, von der Delinquenz und Dekadenz antiker Götter zu heutigen Verhältnissen zementierter Milieus ist es nicht weit. Und was ist der Höllenhund Kerberos anderes als ein ebenso furchteinflößender wie liebesbedürftiger Kampfhund?
Die Persiflierung seriöser Textgattungen gehört seit ehedem zu den Stärken Hannemanns hemdsärmeliger Erzählkunst. Reiseführer und Historiendarstellungen bildeten für den Autor der Lesebühne »LSD - Liebe statt Drogen« in der Vergangenheit Formvorlagen zum Sprung ins ebenso humorvoll Anarchische wie in subversive Sozialkritik. In seinen Kurzgeschichten verzichtete der Autor auf ironisierende Innerlichkeit seiner Figuren und legte so Bewertungsmuster wie Normalität und Abweichung, Moral und Unwesen als soziographische Konventionen offen, die von der Textur der Wirklichkeit stets unterlaufen werden. In seinem griechischen Erzählreigen nun fühlt sich Hannemann derart wohl, dass er seinem tumben Helden sogar eine kleine, feine moralische Entwicklung gönnt, die gerade in ihrer desperaten Hilflosigkeit rührend ist.
Ein Kosmos bevölkert von urwüchsigen Gestalten, beseelt von Eros und Thanatos, durchwebt von Intrigen und Gewalt, Obsession und purem Chaos - bei Hannemann fängt der Olymp gleich hinter Neukölln an. Die ebenso kurzweilige wie im Subtext bissige Lektüre wirft die Frage auf, ob Uli Hannemann seine Neuköllner Sicht auf die Welt von Ilias und Odyssee übertragen hat. Oder ob er nicht vielmehr Neukölln schon immer mit der Sicht des mythenbildenden Chronisten angeschaut hat. Hannemann - ein Neuköllner Homer? Das schriftstellernde antike Vorbild heißt in seiner Sagensatire übrigens - Humor. Da liegt womöglich die Quintessenz.
Uli Hannemann: Die megascharfe Maus von Milo. Vierundzwanzig neue Arbeiten des Herakles. Berlin Verlag. 208 S., br., 14,99 €.
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