Grönland: Kein Land für Vegetarier

Donald Trump will Grönland kaufen, sagt er. Aber wie lebt es sich da?

  • Franzobel
  • Lesedauer: 7 Min.
Wann kommt Donald Trump vorbeigefahren: Die grönländischen Schlittenhunde warten schon.
Wann kommt Donald Trump vorbeigefahren: Die grönländischen Schlittenhunde warten schon.

Der Mensch, so lautet eine Weisheit der Inuit, darf am Lauf der Welt teilhaben, ihn aber nicht verändern. Leider halten sich die wenigsten daran. Wenn man nach dem wahren, echten Leben sucht, wird man im Norden Grönlands fündig. Auch sonst hat es viel zu bieten: Ein Land mit vielen Bodenschätzen, das Donald Trump als neuer US-Präsident gern komplett kaufen würde, wie er jüngst behauptet hat.

Qaanaaq, 77. Breitengrad, ist die nördlichste Stadt der Welt, vielleicht die einzige, in der noch kein Regionalkrimi spielt. 300 Einwohner, ein einziges Hotel mit fünf Zimmern, kein Gastronomiebetrieb, eine Ärztin, Plumpsklos, kaum Straßen, so gut wie keine Autos. Keine Kreuzfahrtkolosse, dafür kommt zweimal im Jahr das Versorgungsschiff aus Dänemark, um die Supermarktregale aufzufüllen. Flugzeuge, Propellermaschinen der Air Greenland, gehen nur alle drei, vier Tage. Es gibt belebtere Orte als diese Siedlung aus bunten Holzhäusern.

In ganz Grönland leben so viele Menschen wie in St. Pölten, auf einer Fläche, die fünfundzwanzigmal so groß ist wie Österreich, wobei der Großteil davon mit Eis bedeckt ist, einem gigantischen, kilometerdicken Gletscher, dessen Abschmelzen den Meeresspiegel um sechs Meter heben würde. Die Inuit glaubten früher, in diesem Inlandeis wohnten die Geister der Toten und menschenfressende Riesen. Vielleicht ist in dieser gigantischen Fläche, wo nichts sein sollte, alles? Heute werden dort Bohrungen durchgeführt, um das CO2 in der Atmosphäre vergangener Jahrhunderte zu messen. Ergebnis: In der Gegenwart ist der Kohlendioxidgehalt um 80 Prozent höher als jemals zuvor.

Auch in Qaanaaq spürt man den Klimawandel, so gibt es plötzlich Stechmücken, die einem das Leben vergällen. Das Meer friert später zu, die Gletscherzungen sind zurückgegangen, die Ankunftszeit der Wale verschiebt sich.

Qaanaaq, Nordgrönland. Was will man an so einem abgeschiedenen Ort, wenn man kein Klimaforscher ist? Mich hat es dahin verschlagen, weil ich für meinen nächsten Roman recherchieren wollte. Tatsächlich ist die Landschaft atemberaubend. Die mächtigen Eisberge im Meer gleichen Palästen oder Kathedralen, der schmale Küstenstreifen besteht aus kargen Geröllwüsten – keine Bäume oder Büsche, nur winzige Blumen und Wollgras, das an Pusteblumen im Häschenpelz erinnert. Kahle Berge, klare Gletscherbäche und die schier endlose Inglefield-Bucht, die eine fast unheimliche Ruhe ausstrahlt. Manchmal kann man das Schnauben der nach Luft schnappenden Narwale hören, und im Winter sind Nordlichter zu sehen, die früher von den Menschen für Nabelschnüre ungeborener Kinder gehalten worden sind.

Wer hier überleben will, muss mit dem auskommen, was das Meer hergibt: Narwale, Robben, Walrösser – alles Meeressäuger, deren dunkles Fleisch gebraten an Wild erinnert. Die Inuit essen es auch roh, da schmeckt die Haut leicht nach Meer. Kein Land für Vegetarier. Früher war das einzige Grünzeug auf dem Speisezettel der Mageninhalt von Rentieren – Pesto auf Grönländisch. Heute bekommt man in Supermärkten zwar Gemüse, aber frisch kann das nicht sein. Dafür stehen vor allen Häusern Holzgestelle, auf denen sockengroße Fleischfetzen trocknen. Sie schmecken wie Beef Jerky mit Fleischmus und werden zu Robbenfett verspeist, das auf der Zunge zerläuft wie warme Butter.

Die Spezialitäten sind Narwalhaut mit Speck oder in einer jungen Robbe fermentierte Krabbentaucher, die von der Konsistenz schleimig und geschmacklich nahe beim Blauschimmelkäse sind. Mir wurde eine aufgeschnittene rohe Robbe angeboten. Gewöhnungsbedürftig. Einheimische zuzelten an Därmen und schwärmten von der frischen Leber. Wegen der herumsurrenden Fliegen wollte ich davon nicht viel essen. Torben, ein Däne, der das Lokalmuseum eingerichtet hatte, meinte, man müsse dreimal kosten, dann packe einen der Geschmack. Er hat sich ordentlich den Bauch vollgeschlagen, es am nächsten Tag aber unter Koliken bereut.

In den zwei eisfreien Sommermonaten bewegt man sich mit Booten oder Kajaks, während im restlichen Jahr Hundeschlitten das bevorzugte Fortbewegungsmittel sind. Der grönländische Schlittenhund hat etwas Wölfisches, keine stechend blauen Husky-Augen, sondern braune. Während die jungen Tiere, die aussehen, als müssten sie in ihren zu großen Knuddelpelz erst hineinwachsen, herumstrolchen, liegen die erwachsenen teilnahmslos an Ketten, stimmen aber ein wildes Jaulen an, sobald ein erlegter Narwal an Land gezogen und zerteilt wird. Die bis zu drei Meter langen, in sich gewundenen Narwalzähne wurden früher als Einhornhörner verkauft und unter anderem in Arzneien wie das von Paracelsus kreierte Laudanum gemengt. Heute dürfen sie nicht mehr ausgeführt werden, wechseln aber immer noch für stolze Summen (tausend Euro) ihre Besitzer.

Neues Thule wird Qaanaaq auf Dänisch genannt. Das alte befindet sich fünf, sechs Bootsstunden südlich und wurde vor siebzig Jahren von den Amerikanern zwangsgeräumt, um dort eine nukleare Luftwaffenstation zu errichten. In diesem militärischen Sperrgebiet gibt es Kinos, Sportanlagen, Bars und ein Bordell. Immer noch sind an diesem strategisch wichtigen Ort Tausende Soldaten stationiert. Von nirgendwo sonst lässt sich Moskau so schnell treffen wie von hier. Was die Inuit davon halten, spielt keine Rolle.

In Kanada ist das Wort »Eskimo« verpönt, die Grönländer lachen drüber. Sie sind ein freundliches, aber schweigsames Volk ohne Nachbarn oder Fremdenhass. Trotzdem weiß man nie, was sie über Weiße denken. Dazu eine kleine Anekdote über den ersten Leiter der Handelsstation von Thule: Als dieser Peter Freuchen eintraf, kam eine Inuit-Frau auf ihn zugerannt, lachte überschwänglich und hörte nicht auf, ihn zu liebkosen. Er fragte, was los sei. Sie sagte, sein Anblick mache sie unendlich glücklich. Sie sei so froh, dass es ihn gebe. Warum? Bisher hatte sie geglaubt, ihre mit einem großen Zinken gestrafte Tochter sei der hässlichste Mensch der Welt, aber nun, da sie den langnasigen Freuchen sah, war bewiesen, es gab hässlichere.

Die Sprache der Inuit besteht aus monströs langen Worten – als würden sie den Wortkern mit unzähligen Vor- und Nachsilben vor der Kälte schützen wollen. Gesprochen klingt es zerhackt und einsilbig, aber mit angenehm kehligem Timbre. Der Lebensraum ist ungastlich. Kein Holz. Die Inuit haben hier mit Erfindungsreichtum und Geschick überlebt. Bereits die aus Schichten bestehende Fellkleidung ist faszinierend: Hemden aus Vogelbälgern, Unterwäsche vom Schneehasenfell, Moos, damit die Innenstiefel trocken bleiben, Kapuzenbesatz aus Hundefell, weil darin der Schnee am wenigsten klumpt. Alles ausgeklügelt. Die alten Erdhäuser hatten Fenster aus zusammengenähten Robbendärmen, man kannte Bogenbohrer, Linksgewinde und raffinierte Waffen – so wurde die Harpune mittels eines Hebels geschleudert, bestand ihre Spitze aus drei Teilen, an dessen vorderstem die Leine mit der Fangblase hing.

Im März und April bekommt man es mit Eisbären zu tun, und wer ins eiskalte Wasser fällt, hat wenig Überlebenschance, hätten die Menschen hier nicht überlebt. Es gab keine Häuptlinge, und mit der Ehe nahm man es nicht so genau. Glaubt man den Beschreibungen, ging es zu wie in einem arktischen Swingerklub. Allerdings war genau geregelt, wer mit wem durfte, um Inzucht zu vermeiden. Das Überleben hatte Priorität, und wer der Gemeinschaft zur Last fiel, wurde kurzerhand entsorgt. Waisenkinder, so sich keine barmherzige Familie fand, Alte, die nicht mehr jagen oder Felle kauen konnten, Säuglinge mit Handicaps? Sie alle wurden erdrosselt oder Klippen hinabgestoßen. Es gab keine Gerichtsbarkeit, die Dinge wurden untereinander ausgemacht.

Heute ist vieles anders. Die Leute versuchen zwar, ihre traditionelle Lebensweise zu bewahren, aber bereits Kleinkinder spielen mit Handys, die Erwachsenen lieben Chips und Cola. Am Strand habe ich nicht nur viele Walskelette gesehen, sondern auch halbverrottete Schlittenhunde, die man dort entsorgt hat. Daneben eine weit zu riechende Mülldeponie, auf der neben Unmengen an Sperrmüll Tausende schwarze Müllsäcke liegen – die Plumpsklo-Innereien. Löcher kann man im felsigen Boden nicht graben, für den Verrottungsprozess fehlt Erde.

Im ganzen Land gibt es kein einziges grönländisches Restaurant, nur Thai, Singalesen oder Dänen. Grönländer wollen unabhängig sein. Ob das funktioniert, wenn die reichen Staaten nach den Bodenschätzen gieren? Noch ist Dänemark eine Art böse Schwiegermutter, die das Kind mit Süßigkeiten (Sozialleistungen) und Schutz (Landesverteidigung) versorgt. Nicht alle Inuit sind damit glücklich. In ihren Augen sind Westler geschwätzig, aufdringlich und – in ihren Augen ein besonderes Laster – unbescheiden. Wir können viel von ihnen lernen. Und sei es nur, dass wir am Lauf der Natur zwar teilhaben, ihn aber nicht verändern dürfen.

Franzobel ist ein österreichischer Schriftsteller. Mitte Februar erscheint bei Zsolnay sei neuer Roman »Hundert Wörter für Schnee«, über einen Grönländer im New York Anfang des 20. Jahrhunderts.

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