Der Atomausstieg ist aufgeschoben
Mehrheit der Japaner wünscht sich eine Abkehr von der Kernkraft und eine stärkere Hinwendung zur Energiewende
Tokio. Das Umdenken ist ausgeblieben. Wer gedacht hat, dass die dreifache Kernschmelze in den Fukushima-Reaktoren in Japan eine Energiewende in Gang setzen würde, wurde enttäuscht. Lediglich weniger Abhängigkeit von der Atomkraft wünscht sich die Regierung von Premier Shinzo Abe. Einen Ausstieg will Abe jedoch nicht – vor allem aus Kostengründen. Am Freitag jährt sich die Katastrophe zum fünften Mal.
Statt 30 Prozent wie vor dem Fukushima-Gau soll die Atomenergie bis 2030 nur noch 20 bis 22 Prozent des nationalen Energiemixes ausmachen. Um dieses Ziel zu erreichen, müssten allerdings nach Ansicht von Experten entweder neue Reaktoren gebaut werden oder veraltete Atommeiler im Einsatz bleiben, die die in Folge der Reaktorkatastrophe verschärften Sicherheitsauflagen aller Wahrscheinlichkeit nicht erfüllen. Nach dem Fukushima-Unfall waren zunächst alle 54 Atomreaktoren des Landes schrittweise vom Netz genommen worden. Nur Anlagen, die die neuen Sicherheitsbestimmungen erfüllen, bekommen die Erlaubnis zum Neustart.
Dennoch waren Ende Februar während des Hochfahrens eines Reaktors in Westjapan acht Liter kontaminiertes Kühlwasser ausgelaufen. Der Zwischenfall wurde als ernst genug eingestuft, um sofort gemeldet werden zu müssen. Drei Reaktoren gingen in den vergangenen Wochen und Monaten wieder ans Netz. Der vierte musste wegen eines Störfalls wieder abgeschaltet werden.
Experten warnen seit längerem, dass das Hochfahren so vieler Reaktoren nach mehreren Jahren Stillstand ein hohes technisches Risiko berge und viele Probleme möglicherweise erst während des Prozesses der Wiederinbetriebnahme erkannt werden. Zwar ist die Angst in der Bevölkerung vor weiteren Atomunfällen groß, doch größere Bürgerproteste sind selten geworden. Umfragen zufolge sprechen sich knapp 60 Prozent der Bevölkerung gegen die Wiederinbetriebnahme der Reaktoren aus. Die Mehrheit der Japaner wünscht sich einen Atomausstieg und die Energiewende.
Genau wie die Regierung der Industrie den kostengünstigen Atomstrom verspricht, versucht sie, in Sachen Klimaschutz mit dem Ausbau der Erneuerbaren von bisher 3 auf 15 Prozent im Jahr 2030 zu punkten. Nicht zuletzt dank großzügiger Einspeisetarife erlebte die Solarenergie in den vergangenen Jahren einen noch nie dagewesenen Aufschwung. Auch Kraftwerke für Biomasse, Windkraft und Geothermie werden gebaut.
Eine schnelle Energiewende scheint aber auch wegen des Widerstands der großen Stromkonzerne nicht in Sicht. Die Netze seien nicht auf die erneuerbaren Energieträger ausgelegt, so das Standardargument. Den größten Enthusiasmus zeigt die Regierung derzeit bei der Förderung der weltweit als Zukunftstechnologie gehandelten Wasserstofftechnologie. Bei Brennstoffzellenautos wie Toyotas Mirai und Brennstoffzellen für den Hausgebrauch steht Japan bereits heute an der Weltspitze. Jetzt sollen die Olympischen Spiele in Tokio 2020 zum Musterbeispiel für eine quasi emissionsfreie Wasserstoffgesellschaft werden.
Der dafür benötigte Wasserstoff soll unter anderem aus Fukushima kommen, verkündete Abe wenige Tage vor dem 5. Jahrestag der Katstrophe medienwirksam in der bis vor wenigen Monaten wegen hoher Strahlenwerte vollständig evakuierten Kleinstadt Naraha. Bis Ende März soll eine Arbeitsgruppe aus staatlichen Stellen und den großen Energieversorgern einen Plan ausarbeiten, wie Fukushima sich künftig als Wasserstoffzentrum etablieren kann. Hergestellt wird der Wasserstoff durch die Elektrolyse von Wasser. Für diesen Prozess wird Strom benötigt. In den geplanten Fukushima-Fabriken soll er ausschließlich aus erneuerbaren Quellen stammen.
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