Geld gegen Einstellung

Die Opfer aus der Diaz-Schule in Genua wollen mehr als Schmerzensgeld für die Misshandlungen während des G8-Gipfels - sie warten auf Reformen und eine Entschuldigung

  • Tim Zülch
  • Lesedauer: 5 Min.
Bis heute laufen die Prozesse: Nun macht der italienische Staat den misshandelten Protestierern von 2001 ein Entschädigungsangebot. Doch viele sehen das Ansinnen kritisch.

»Ich werde das Angebot ablehnen«, sagt die Filmemacherin Katinka Zeuner. »Der italienische Staat will sich meiner Ansicht nach damit freikaufen.« Im Sommer 2001 war sie in Genua dabei, als Polizisten die offiziell für die Protestierer gegen den G8-Gipfel bereitgestellte Schule Diaz stürmten, die teils schlafenden Globalisierungskritikerinnen und -kritiker blutig prügelten und in die Untersuchungshaftanstalt Bolzaneto brachten. Zeuner hatte noch Glück und kam mit einer aufgeplatzten Lippe und mehreren blauen Flecken und Prellungen vergleichsweise glimpflich davon. Andere mussten ins Krankenhaus gebracht werden, wurden aber später ebenfalls in die Polizeikaserne geschafft. Dort gingen die Misshandlungen weiter.

Mehrere Gerichtsverfahren hat Zeuner seitdem geführt und führen müssen. Sie wurde als Straftäterin angeklagt, verklagte die Polizisten in zwei Verfahren. Anhängig ist noch ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg und ein Zivilverfahren in Italien, das noch nicht eröffnet wurde. Der erste Brief bezüglich der Übergriffe in der Diaz-Schule erreichte sie über ihren italienischen Anwalt im Januar, ein weiterer bezüglich der Misshandlungen in der Bolzaneto-Haftanstalt Mitte Februar. Die italienische Regierung formuliert darin - 15 Jahre nach Genua - an den Menschenrechtsgerichtshof ein Angebot zur endgültigen Beilegung der gerichtlichen Auseinandersetzungen. Der Schlüsselsatz: »Der italienische Staat bietet für erlittenen moralischen Schaden die Summe von 45 000 Euro an.« Man wolle von Regierungsseite eine »Lösung der Angelegenheit« herbeiführen und eine »friedliche Beilegung« der Prozesse erreichen.

G8 in Genua

Der Gipfel: Im Juli 2001 fand in Genua ein G8-Gipfel statt. Vertreter der Länder Kanada, Frankreich, Deutschland, Italien, Japan, Russland, Großbritannien und USA trafen sich in der norditalienischen Stadt.

Die Agenda: Hauptthema war Armut. Dabei ging es um Schuldenerlasse für die ärmsten Länder und eine weitere Liberalisierung des Welthandels. Eine Milliarde US-Dollar wurden zur Bekämpfung von HIV/AIDS bereitgestellt. Auf eine erwartete Strategie zur Reduktion von Treibhausgasen, wie im Kyoto-Protokoll festgelegt, konnten sich die Staatschefs nicht einigen.

Die Proteste: Weit über 300 000 Personen protestierten während des Gipfels in Genua. Imposant war die Breite des Bündnisses, das von katholischen Basisgruppen über gesetzte Gewerkschafter zu linksradikalen Autonomen reichte. Während des Gipfels gab es mindestens 126 Festnahmen und 500 Verletzte. Ein 23-jähriger Demonstrant wurde von einem Beamten durch einen Kopfschuss getötet, eine Demonstrantin von einem Panzerwagen überrollt. timz

Nach Genua gab es eine große Zahl von Gerichtsverfahren. So ist die juristische Aufarbeitung unübersichtlich. Nur einige der Verfahren endeten bis jetzt mit rechtskräftigen Urteilen. Das ist ein Problem, weil die italienischen Verjährungsfristen währenddessen weiter ablaufen. So können Verfahren von der Justiz leichter verschleppt werden. 2007 wurde gegen 39 Demonstranten Anklage wegen »Verwüstung und Plünderung« erhoben. Hohe Strafen verhängte der italienische Kassationsgerichtshof, vergleichbar mit dem Bundesgerichtshof, 2012 für fünf Demonstranten. Ein Angeklagter muss für 14 Jahre in Haft, drei weitere erhielten Strafen zwischen zehn und zwölfeinhalb Jahren wegen »Beteiligung an den Ausschreitungen«, eine Frau erhielt sechseinhalb Jahre.

Seit 2007 fanden auch mehrere Prozesse gegen Polizeibeamte und politisch Verantwortliche statt. Sie gingen durch mehrere Instanzen. 2010 schließlich stellte ein Berufungsgericht die Schuld von 44 Polizisten und Gefängnisbediensteten fest. Ein großer Teil der Anklagepunkte war aber schon verjährt, so dass nur gegen sieben Personen Haftstrafen ausgesprochen wurden. In einem weiteren Verfahren wurden 25 der 27 Angeklagten, darunter auch die Polizeikommandanten, zu Freiheitsstrafen zwischen drei und fünf Jahren verurteilt. Die Verurteilten wurden zudem verpflichtet, Schadensersatz an ihre Opfer zu zahlen. Mitte 2012 schließlich wurden 16 Spitzenbeamte der italienischen Polizei wegen des Sturms auf die Diaz-Schule verurteilt. Sie müssen bis zu fünf Jahre ins Gefängnis und verlieren für fünf Jahre alle öffentlichen Ämter. Nach Aussage des italienischen Anwalts Emanuele Tambuscio sind aber noch immer alle Beamte im Dienst.

Große internationale Aufmerksamkeit erreichte schließlich 2015 ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser verurteilte Italien wegen Folter und sprach dem Italiener Arnaldo Cestaro 45 000 Euro Schmerzensgeld zu. Die brutale Erstürmung der Diaz-Schule sei durch nichts zu rechtfertigen gewesen. Der damals 62-jährige Cestaro habe sich beim Eindringen der Polizei mit erhobenen Händen an eine Wand gesetzt und den Beamten keinen Anlass zur Gewalt gegeben, so das Gericht. Dennoch wurde er geschlagen und getreten, an den Knochenbrüchen leidet der Mann bis heute. »Ich habe das erlebte Grauen nie vergessen. Ich sah den Horror unseres Staates«, sagte der inzwischen 76-Jährige nach dem Urteil einer italienischen Zeitung.

Mittlerweile hat Italien das Unrecht gegen die schlafenden Demonstranten in der Diaz-Schule und gegen die Gefangenen in der Bolzaneto-Kaserne offiziell anerkannt. An den EGMR schreibt das italienische Außenministerium im Dezember 2015, dass es »sehr ernste und bedauerliche durch Polizeibeamte ausgeführte Verbrechen« gegeben habe. Diese seien allerdings durch italienische Gerichte adäquat verurteilt worden. Nun wolle man die Sache endlich beilegen. Allerdings bemängeln Kritiker, dass es noch keine wirkliche Reform der Polizei oder der Gesetze gegeben habe. »Die italienischen Ordnungskräfte sind nicht imstande, sich selbst zu reformieren«, meint der Journalist Lorenzo Guadagnucci, der auch 2001 in Genua dabei war, und fordert eine »externe Intervention«. Er meint damit vor allem den EGMR.

Arnaldo Cestaro will noch mehr. Er fühlt sich erst dann beruhigt, wenn Folter in Italien eine Straftat ist. Außerdem fordert er eine Entschuldigung des Staates. Dies sind auch die Gründe, warum die Mehrzahl der noch verbliebenen Kläger und Klägerinnen in Straßburg - rund 100 - das Entschädigungsangebot zur endgültigen Beilegung der Affäre ablehnt. »Die italienische Regierung will sich freikaufen. Es gab es nie eine offizielle Entschuldigung, im Gegenteil, die Prozesse wurden verschleppt, und es gibt in Italien nach wie vor kein Gesetz gegen Folter«, kritisiert die Münchnerin Teresa Treiber. Sie hat aber auch gehört, dass eine englische Gruppe auf das Angebot eingehen will, allerdings einen höheren Betrag fordert. In Italien sei die Stimmung hingegen eindeutig dagegen.

Ähnlich sieht es Katinka Zeuner. »Wir haben das auf unserer Mailingliste diskutiert. Die meisten wollen das Angebot ablehnen.« Sie will das Verfahren in Straßburg bis zum Ende durchziehen und danach ein Zivilverfahren in Italien anstrengen. »Solange ich denen vor den Karren fahren kann, mache ich das.« Aber sie zeigt auch Verständnis für Leute, die das Geld annehmen, um ihrerseits einen Schlussstrich zu ziehen. Sie hat bereits ein Strafverfahren gegen Polizeibeamte gewonnen und danach eine deutlich geringere Entschädigung überwiesen bekommen. Das hat ihr geholfen, über das Trauma hinwegzukommen. »Ich bin zwar gleich zu einer Therapeutin gegangen, was sehr gut war, aber als damals die Entschädigung kam, ging es mir besser«, sagt Zeuner. Sie überlegt, horcht in sich hinein, lächelt. »Ich kann es nicht erklären, aber das Geld hat es irgendwie besser gemacht.«

Während die äußeren Verletzungen bei den meisten verheilt sind, bleiben die inneren Verletzungen ein Leben lang. Vor allem die Folterungen in Bolzaneto haben noch Jahre später Spuren hinterlassen. »Wir mussten uns nackt ausziehen, auch die Frauen wurden von männlichen Ärzten untersucht. In den Zellen mussten wir uns mit gespreizten Beinen und erhobenen Händen aufstellen, dann schlugen sie mit Stöcken zwischen die Beine«, erzählt Zeuner. »Sowas vergisst man nicht.«

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