Wenn die Praxis zum Patienten fährt
Mit dem Telearzt-Projekt soll der Mangel an Medizinern auf dem Land kompensiert werden
Direkt hinter dem Haus von Marianne Hagen beginnt der Wald. Bis Hausarzt Thomas Aßmann bei Patienten wie der 84-Jährigen im dünn besiedelten Oberbergischen Land in Nordrhein-Westfalen ist, dauert es. »25 Minuten Anfahrt, fünf Minuten beim Patienten und 25 Minuten Rückweg - das ist hier auf dem Land ganz normal«, sagt er. Dann hatte er eine Idee, wie er sich die mühsamen Anfahrtswege sparen und dadurch mehr Zeit für die Patienten haben kann.
Der Landarzt aus Lindlar bei Köln entwickelte das Telearzt-Projekt. Dabei spielt Frauke von Wirtz als Versorgungsassistentin eine wichtige Rolle. Wenn zum Beispiel Marianne Hagen untersucht werden muss, schnappt sich von Wirtz den Telemedizin-Rucksack. Darin stecken unter anderem ein Blutdruckmessgerät, ein Pulsoximeter und ein 3-Kanal-EKG-Gerät. Dann fährt sie los.
»Die Praxis fährt zum Patienten«, beschreibt Aßmann das System. Vor Ort macht von Wirtz bei der 84-Jährigen ein EKG und misst ihren Blutdruck - und Aßmann wird per Video über ein Tablet zugeschaltet. »Ich habe den Doktor in der Tasche«, sagt von Wirtz. Der persönliche Kontakt mit dem Patienten leide deshalb nicht. Die Messwerte werden in die Praxis geschickt. »Das System ist geschlossen. Die anonymisierten Daten kommen vom Tablet in die Praxis - der Anbieter speichert keine Patientendaten«, erklärt Aßmann.
Hagen ist angetan von dem Projekt. Frauke von Wirtz sei mit dem »Wunderkoffer« immer schnell bei ihr. Seit Oktober läuft die Testphase, und Aßmann möchte das System nun noch ausweiten: »Wir wollen ein Gesamtsystem entwickeln, in dem der Hausarzt den Kern bildet und Spezialisten wie Kardiologen hinzugeschaltet werden können.« Der Hausarzt kenne die Vorgeschichte und die Medikamente der Patienten und habe deshalb den besten Überblick.
Krankenkassen interessieren sich schon für das Modell. »Wichtig ist, dass wir Lösungen entwickeln, wie die älter werdende Bevölkerung mit gleich guter Qualität von dem jeweiligen Hausarzt versorgt werden kann«, sagt Ursula Marschall von der Barmer GEK. Durch das Modell würden Rettungsdienstrufe und damit verbundene Krankenhausaufenthalte weitgehend vermieden. Der Patient könne zu Hause versorgt werden und spare sich beschwerliche Transporte zur Hausarztpraxis. Auch der Betriebskassen-Dachverband GWQ arbeitet bei dem Projekt mit. Momentan geht es darum, das Projekt in Nordrhein-Westfalen, Hessen, Rheinland-Pfalz und Bayern zu etablieren.
»Gegen das Modell in Lindlar haben wir nichts einzuwenden«, sagt Horst Schumacher, Sprecher der Ärztekammer Nordrhein. »Die herkömmliche Behandlung wird durch moderne Methoden ergänzt.« Dem Ärztemangel, gerade auf dem Land, werde so entgegengesteuert. Der Doktor könne sich mehr darauf konzentrieren, mit dem Patienten zu sprechen, weil er Routineaufgaben abgebe.
Momentan darf von Wirtz aus rechtlichen Gründen lediglich solche Routineüberprüfungen durchführen. Die Erstbehandlung darf ausschließlich der Arzt machen - und nur vor Ort. In der Schweiz und in den Niederlanden sei die Politik da schon liberaler, erklärt von Wirtz. Technisch wäre schon jetzt einiges mehr möglich - zum Beispiel Ultraschalluntersuchungen, sagt Aßmann. dpa/nd
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