Eine Zeitung, zwei Leben, 70 Jahre.
Vor 70 Jahren erschien die erste Ausgabe des »Zentralorgans« einer Partei, die ihre Wurzeln in der Arbeiterbewegung hat. Man wolle »Stimme der Partei« sein, aber auch »unbarmherzige Kritik« üben, ein »lebendiges Glied zwischen der Parteiführung«, den Mitgliedern, ja der ganzen Bevölkerung werden, hieß es damals. Doch bald wurde das Blatt zum Verlautbarungsmedium des Führungszirkels dieser Partei. Wie ein Türsteher schob sich ND zwischen erlebte Wirklichkeit und Politik. Mit dem Jahr 1989 begann ein neuer Lebensabschnitt: Aus dem »Zentralorgan« wurde die »Sozialistische Tageszeitung«.
Tauchen Sie ein in 70 Jahre Geschichte. Lesen Sie unveröffentlichte Originaldokumente. Stöbern Sie in den Fotoarchiven des »nd«. Eine Zeitung, zwei Leben, 70 Jahre.
Die Gründungsjahre
»Allen Berlinern und besonders den Lesern des «Neuen Deutschland» herzliche Grüße. Ein neues freies Deutschland steht als Aufgabe vor uns allen, der wir uns jeder an seinem Platz, mit aller Kraft widmen wollen.«
(Hans Albers grüßte die Leser des ND in der Erstausgabe vom 23.4.1946)
Die Arbeitsbedingungen nach dem Ende des Krieges
Olaf Koppe
Im März 1946 wurde über die Schaffung eines gemeinsamen Parteiorgans zwischen SPD und KPD beraten. Die Sozialdemokraten setzten sich für eine gemeinsame Parteizeitung ein. Mit der Leitung des Aufbaus der Zeitung wurde der Kommunist Sepp Schwapp beauftragt. Über das künftige Organ der Partei wurde auf zwei getrennten Parteitagen von SPD und KPD am 19./20. April 1946 noch einmal diskutiert und im gemeinsamen Organisationsausschuss vereinbart, dass die »Deutsche Volkszeitung« (DVZ) die Parteizeitung der neuen gemeinsamen Partei werden sollte. Da es jedoch in der Öffentlichkeit wenig glaubhaft erschienen wäre, dass es sich beim Zentralorgan der SED um wirklich etwas Neues handeln würde, wenn der alte KPD-Name bliebe, wurde entschieden, dass die Parteizeitung in Zukunft »Neues Deutschland« heißt. Es ist nicht bekannt, wer den Namen »Neues Deutschland« vorschlug und wie die Namensgebung begründet wurde. Aus stenographischen Notizen des KPD-Vorsitzenden Wilhelm Pieck ist lediglich die oben erwähnte knappe Begründung der Glaubhaftigkeit zu entnehmen, außerdem sollte der Titel ursprünglich nur vorübergehend verwendet werden.
Den markanten Zeitungskopf von »Neues Deutschland« gestaltete seinerzeit ein junger Fotoreporter der »Berliner Zeitung«, Günter Lupinski. Irgendetwas fehlte aber immer noch, etwas Markantes und Unverwechselbares. Verlagsleiter Kroh hatte schließlich die rettende Idee: Er hatte bemerkt, dass der lange Zeitungstitel zu sperrig im alltäglichen Gebrauch war. Den ganzen Namen würden die Wenigsten immer aussprechen. Deshalb schlug der damalige Verlagsleiter der DVZ, Fritz Kroh vor, die Buchstaben N und D in einem größeren Schriftgrad zu setzen. Damit hatte der Zeitungskopf ein markantes Aussehen und zugleich einen gängigen Kurznamen: NEUES DEUTSCHLAND – ND. Seit dem 18.12.1989 lautet die Unterzeile: »Sozialistische Tageszeitung« und seit Oktober 2011 wird der Titel »neues deutschland« klein geschrieben. Zudem wurde mehrfach zwischen 1946 und heute die Schmuckfarbe geändert sowie die Titelzeile rechts- oder linksbündig bzw. zentriert gedruckt.
Am 25. April 1946 wurden vom SED-Zentralsekretariat der Kommunist Sepp Schwab und der Sozialdemokrat Max Nierich als erste »gleichberechtigte« Chefredakteure der Zeitung bestätigt. Bereits im Juli 1946 folgte der zeitungserfahrene Lex Ende.
Die Auflagenhöhe der Zeitung wurde mit 400.000 Exemplaren festgelegt. »Neues Deutschland« sollte sechsmal in der Woche (Dienstag bis Sonntag) mit jeweils sechs Seiten Umfang erscheinen. Wer in den Ausgaben der Anfangszeit von »Neues Deutschland« blättert, wird aber feststellen, dass lediglich zwei Ausgaben, - die Erstausgabe am 23. April und die vom 1. Mai -, in diesem Umfang herauskamen. Der Umfang von sechs Seiten wurde erst mit den ND-Nummern ab 18. August 1946 erreicht. Der Grund für diese lange Anlaufzeit war simpel: es fehlte an Papier. Der Papiermangel wurde in hohem Maße durch die Zuteilungspolitik und Eigeninteressen der SMAD erzeugt. Der Kampf ums Papier war so in den Anfangsjahren eine Schwerpunktaufgabe des Verlages.
Auch die Arbeitsbedingungen bei »Neues Deutschland« waren in den Anfangsjahren nicht einfach. In den ersten Tagen und Wochen des Bestehens der Zeitung hatten die Räume keine Fußböden, die Zeitungsleute saßen hinter mit Pappe vernagelten Fenstern, Räume waren generell knapp und einige Redakteure mussten in der Setzerei, wo die Luft vom Bleidunst geschwängert war, arbeiten. Diese Zustände und der sowieso schon komplizierte und feinnervige Zeitungsbetrieb bewirkten eine »nervenaufpeitschende Atmosphäre«. Deshalb wurde der Auf- und Ausbau neuer Gebäude und Einrichtungen für die Zeitung vorangetrieben. Nach mehr als zwei Monaten hieß es Umziehen zum »Pfefferberg«…
PDF zum Download Für Sie enthüllt: »Plan der Hauptvorhaben der Redaktion «Neues Deutschland» für die Auswertung der 5. Tagung des ZK der SED zur weiteren Verwirklichung der Beschlüsse des X. Parteitages«
Die Schaffensorte
In der Geschichte der Tageszeitung Neues Deutschland gab es einige Umzüge. Hier erfahren Sie alles über die verschiedenen Wirkungsstätten von Verlag und Redaktion.
Wo Neues Deutschland produziert wurde
Von Olaf Koppe
Verlag »Neues Deutschland« G.m.b.H, Berlin SW 08, Zimmerstraße 88-91. Das nur fünfzeilige Impressum der ersten ND-Ausgabe vom 23. April 1946 teilte nicht allein die allererste Anschrift mit, sondern auch, dass »nur von 11 bis 13 Uhr« Sprechstunde der Redaktion sei. Die Mitarbeiter der ersten Stunde – sie hatten zu arbeiten.
»Die Stadt war kaputt«, erinnerte sich Klaus Huhn, einer der Redakteure der ersten Stunde, an den Beginn. Journalismus im zerbombten Berlin. Auch vom Gebäudekomplex Zimmerstraße 88-91, der 1886 als Markthalle III eröffnet wurde, bald aber ein Konzert- und Veranstaltungshaus wurde, standen 1946 nur noch zwei Häuser. Nach Kriegsende übernahm die »Deutsche Volkszeitung« der KPD, die am 13. Juni 1945 erstmals erschienen ist und später im »ND« aufging, die Räume. Ein Großteil der Redaktion zog bald wieder aus – nur wenige Wochen später ging es in eine ehemalige Brauerei auf den Pfefferberg in Prenzlauer Berg, einige Ressorts und die Druckerei blieben in Mitte. Die räumliche Zersplitterung von Verlag, Redaktionsstellen, Setzerei und Druckerei verschlimmerte sich durch den Teilumzug so sehr, dass mehr als 80 Fahrradkuriere zu jener Zeit für Botendienste beschäftigt waren. Erst im November 1948 waren dann alle Produktionsbereiche von Redaktion, Verlag und Druckerei am Pfefferberg vereint…
Ende der 40er/Anfang der 50er Jahre gab es große Pläne, an der Leipziger Straße in Berlin-Mitte einen großen Medienkomplex entstehen zu lassen, was letztendlich aber an fehlenden finanziellen Ressourcen scheiterte – die Mittel wurden mehr für den Wiederaufbau im Wohnungsbereich, z.B. für den Aufbau der damaligen Stalin-Allee, heute Karl-Marx-Allee benötigt. Stattdessen ging es für die Redaktion schrittweise zwischen Dezember 1949 und November 1950 in die Räume des ehemaligen »Vorwärts« in der Mauerstraße 38/40, direkt an der Ecke Französische Straße. In diesem ehemaligen Gebäude der Deutschen Bank blieb die Redaktion bis 1972.
Ein neu gebauter Druckereistandort war bereits 1953 die erste Vorhut des »ND« auf dem von der Reichsbahn gepachteten Gelände des ehemaligen Küstriner Bahnhofes, von 1929 bis 1949 auch Standort des in den letzten Kriegstagen zerstörten Varieté-Theaters Plaza am damaligen Küstriner Platz - dem heutigen Franz-Mehring-Platz - in Berlin-Friedrichshain. Diese Druckerei musste weichen, als 1969 die Bauarbeiten zu einem modernen Verlags- und Druckereistandort als Sitz des SED-Zentralorgans begannen. Am 27. Mai 1972 erschien »Neues Deutschland« erstmals unter der neuen Adresse Franz-Mehring-Platz 1.
Die Umzugsgeschichte ging aber nach 1990 weiter, da Anfang der 90er ein langwieriger Rechtstreit mit dem Rechtsnachfolger der Reichsbahn, der Deutschen Bahn, um Immobilie und Grundstück ausbrach. Die Druckerei war da bereits separat privatisiert und von der Treuhand an den Verlag Gruner & Jahr verkauft worden. »ND« wurde deshalb in Berlin-Treptow von der ehemaligen »Tribüne«-Druckerei gedruckt. Aufgrund des Rechtsstreits mit der Deutschen Bahn zogen Verlag und Redaktion in die Diaspora in das ehemalige Kraftwerksgebäude des Berliner Osthafens an der Elsenbrücke an der Grenze zu Berlin-Treptow. Den Druckauftrag übernahm das Druckhaus Schöneweide, heute EversFrank Berlin.
Nach gewonnenem Rechtsstreit mit der Bahn konnten Verlag und Redaktion 2005 wieder an den angestammten Platz am Franz-Mehring-Platz zurück ziehen und sind bis heute Mieter in dem durch eine Tochterfirma bewirtschafteten Bürohaus FMP1 – ein inzwischen gut entwickelter Standort der Berliner Medien- und Kreativindustrie.
Die Chefredakteure
»Die Redaktionsleitung trägt die inhaltliche Gesamtverantwortung für die Tagesproduktion der Printausgabe und des Onlineauftrittes des «nd» im Sinne des Pressegesetzes. Sie wird von der/dem ChefredakteurIn geleitet.« (nd-Redaktionsstatut, 18.12.2014)
Seit ihrer Gründung wurde die Zeitung von 15 Chefredakteuren geleitet, das wären im Schnitt etwa viereinhalb Jahre Amtszeit. Doch die Wirklichkeit war eine andere: Die ersten Chefredakteure wirkten zum Teil nur wenige Monate, die erste Doppelspitze aus dem bayerischen Kommunisten Sepp Schwab und dem Berliner Sozialdemokraten Max Nierich währte nur kurz – Schwab baute bald schon die DEFA auf. Ihm folgte der Unterfranke Lex Ende, der sich bereits in der Illegalität einen eigenen Kopf bewahrt hatte und dafür aus der KPD ausgeschlossen wurde. 1949 geriet er erneut in die stalinistischen Mühlen – er wurde im Rahmen einer Anti-Tito-Kampagne als West-Emigrant abgelöst und 1950 aus der SED geworfen.
1949 war es auch mit der die Vereinigung von SPD und KPD symbolisierenden Doppelspitze vorbei: Der in Gliwice geborene Rudolf Herrnstadt wurde Chefredakteur – verlor seinen Posten aber ebenfalls bald wieder wegen »parteifeindlicher Fraktionsbildung«. Herrnstadt hatte sich für eine Demokratisierung in der SED eingesetzt, aber den Machtkampf mit Walter Ulbricht verloren. 1954 flog er auch aus der Partei. Als ND-Chefredakteur amtierte ab 1953 Heinz Friedrich, der in Reichenhain bei Chemnitz geboren wurde und in Frankreich und den Niederlanden im Widerstand gegen die Nazis aktiv war. Er blieb bis 1955, wurde später Chefredakteur der »Volksstimme« – und 1961 wegen »Opportunismus« abgesetzt. Sein Nachfolger beim »ND« war Georg Stibi, der aus dem Unterallgäu stammte und die NS-Zeit im mexikanischen Exil überlebt hatte. Stibi hatte zuvor die Redaktionen der »Berliner Zeitung« und der »Leipziger Volkszeitung« angeführt, nach seiner Zeitungszeit wurde er Diplomat.
Von 1956 bis 1966 war Hermann Axen ND-Chefredakteur; der gebürtige Leipziger hatte zuvor den Rundfunk auf SED-Linie gebracht und galt später als Architekt der DDR-Außenpolitik. Von 1966 bis 1971 führte der Hamburger Rudolf Singer die ND-Redaktion, er hatte zuvor die Abteilung Agitation im Zentralkomitee der SED geleitet. Ihm folgte im »ND« Joachim Herrmann, ein Berliner, der zuvor Chefredakteur des FDJ-Blattes »Junge Welt« und der »Berliner Zeitung« gewesen war. Später rückte Herrmann in der SED-Führung zum Mann für die Agitation auf, die Wende machte seiner Tätigkeit ein Ende.
Im »ND« war er 1978 von Günter Schabowski beerbt worden, der aus Anklam stammte und in der SED Karriere gemacht hatte. Im Gedächtnis bleibt Schabowski aber vor allem mit seinen Äußerungen auf einer Pressekonferenz am Abend des 9. November 1989, die den Mauerfall mindestens beschleunigte. Zu jener Zeit war Herbert Naumann bereits Chefredakteur; der Mann aus der Nähe des mittelsächsischen Rochlitz’ war 1985 auf den Posten gekommen, weil Schabowski Nachfolger des gestürzten Konrad Naumann in der Berliner SED wurde. Seiner Absetzung im Herbst 1989 entzog sich Naumann durch einfaches Fernbleiben – das alte Regime implodierte zum Teil eher still.
Nach der Wende im »ND« wurde Ende 1989 Wolfgang Spickermann Chefredakteur, der zuvor Wissenschaftsredakteur gewesen war und ab 1992 als Geschäftsführer und Verlagsleiter amtierte. In der Chefredaktion folgte ihm Reiner Oschmann, der nach einem Konflikt mit der Geschäftsführung um den Kurs des Blattes im Jahr 1999 seinen Rücktritt erklärte. Sein Nachfolger wurde der Bremerhavener Jürgen Reents; der einstige Grünen-Abgeordnete im Bundestag und spätere Sprecher der PDS-Fraktion im Bundestag amtierte bis 2013 und damit als längster Chefredakteur in der Geschichte des ND. Seit 2012 ist Tom Strohschneider der bisher 15. Mann an der Spitze der Redaktion. Eine Frau hat es dort, leider, nie gegeben.
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Das Pressekombinat
Mehr als 20 Jahre sollte es dauern, bis die verschiedenen Ideen und Entwürfe für einen gemeinsamen ND-Gebäudekomplex umgesetzt wurden.
Alles unter einem Dach
Olaf Koppe
Im Jahre 1973 überschritt die ND-Jahresdurchschnittsauflage die Ein-Millionenmarke. Zudem erhöhte sich der Export der Zeitung von mehr als 26.000 Exemplaren im Jahre 1965 auf über 49.000 Zeitungen im Jahre 1975. Hinter diesen Zahlen steckte die Arbeit einer Vielzahl von Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die von der Entstehung über den Druck bis zur Zustellung dafür sorgten, dass die Zeitung pünktlich die Leserschaft erreichte.
Heute vermag sich kaum noch jemand vorstellen, unter welchen Bedingungen in den Herstellungsbereichen und bei der Zustellung damals gearbeitet wurde. An den Setzmaschinen herrschten Temperaturen bis zu 40 Grad Wärme. Über Bildfunk sendete Berlin dann die fertige Seite noch an die anderen ND-Druckstandorte Rostock, Halle, Erfurt und Dresden. In der Regel dauerte das 10 Minuten, auch wenn die Übertragungstechnik längst noch nicht ausgereift war. Nachdem in den Druckereien die Offsetmaschinen eingerichtet waren, konnten diese stündlich bis zu 150.000 Zeitungen ausstoßen, die wiederum über Laufbänder in die Packereien gingen. Dort sorgten Packer dafür, dass die »Packmaschinen« die Zeitungen kontinuierlich und ordnungsgemäß zu Zeitungspaketen bündelten. Während in der Nacht die Offsetdruckmaschinen auf vollen Touren liefen, läutete bei den ND-Zeitungsfahrern der Wecker, denn ihr Arbeitsbeginn war um vier Uhr morgens. Von den Druckereien fuhren sie die Zeitungsbündel zu den Kiosken, Kaufhallen, Betrieben, Institutionen, Bahnhöfen, Postämtern und natürlich zu den Stützpunkten der Zeitungszusteller. Wobei es richtiger Zeitungszustellerinnen heißen sollte, denn die Arbeit machten mit ihren »Zweirädern« bei jedem Wetter vor allem Frauen.
Mehr als 20 Jahre hatte es gedauert, bis die verschiedenen Ideen und Entwürfe für einen neuen ND-Gebäudekomplex – in dem Redaktion, Verlag und Druckerei vereint waren – umgesetzt werden konnten. Im März 1972 war es endlich soweit, die ersten Verwaltungsabteilungen zogen in das neue siebenstöckige Redaktions- und Verlagsgebäude des ND am Küstriner Platz, der bald darauf in Franz-Mehring-Platz umbenannt wurde. Ursprünglich waren nur sechs Stockwerke geplant gewesen, aber durch die Festlegung, dass auch die Redaktionen der »Neuen Deutsche Bauernzeitung« sowie der Rätselzeitung »Troll«, die mit zum ND-Verlag gehörten, in das neue Gebäude ziehen sollten, wurde noch ein Stockwerk höher gebaut. Der über den Zwischentrakt mit dem Redaktions- und Verlagshaus verbundenen Produktionshalle I mit der eigenen zentralen Energiestation für den Gesamtkomplex, u.a. zur Aufrechterhaltung des gesamten Zeitungsbetriebes bei totalem Stromausfall, der Setz- und Drucktechnik sowie Werkstätten und anderes mehr, seit den achtziger Jahren auch mit einem modernen Fotosatzzentrum und einer Bildreproduktionsabteilung, schloss sich die Produktionshalle II mit Druckmaschinensaal und buchbinderischer Weiterverarbeitung an - in der Dimension eines Fußballfeldes. Beide nahmen im März 1972 ihren Betrieb auf, fensterlos und vollklimatisiert. Im abschließenden vierstöckigen Gebäudeteil wurden die Klimatechnik für den Gesamtkomplex, die Beheizung und die Wasserversorgung untergebracht. Für Havariefälle gab es Dieselaggregate zur Notstromversorgung und, nicht zu vergessen, die Rohrpostanlage zu den wichtigen Einrichtungen der SED und Regierung in der Stadt. Mitte der siebziger Jahre kam zu diesem Ensemble dann noch eine aus Unter- und Obergeschoß bestehende Halle III für die Papierabfallbeseitigung hinzu. Dort gab es auch Lagerräume und eine Bogendruckabteilung. Im Obergeschoß stand ab 1976 ein großer Veranstaltungssaal für die Belegschaft zur Verfügung. Eine vierte Halle mit Gleisanschluss wurde Anfang der achtziger Jahre errichtet, um eine für mehrere Tage reichende Rollenpapierbevorratung zu ermöglichen. Von der Halle IV führte eine elektronisch gesteuerte Papierzuführung über Rollenbahnen zu den Druckmaschinen der Produktionshalle II.
Die Redaktion verblieb noch für einige Wochen im alten Haus in der Mauerstraße, wo am 26. Mai die letzte ND-Ausgabe entstand. Danach erfolgte der Umzug. Am darauf folgenden Tag wurde im ND-Impressum für die Redaktion, den Verlag und die Druckerei nur noch eine Adresse aufgeführt: Franz-Mehring-Platz 1.
Die Zusammenlegung der drei Bereiche erwies sich als großer Gewinn, da eine Unmenge an Botengängen und Kurierfahrten quer durch die Stadt zu den vier Betriebsteilen in drei verschiedenen Stadtteilen wegfielen. Zudem waren nun die Redaktionen, die Verwaltungs- und Verlagsbereiche sowie die sozialen Einrichtungen eng miteinander verbunden. Vor allem hatten sich für die Redaktion und den Verlag die Arbeitsbedingungen und die technische Ausstattung deutlich verbessert. Neu war für alle das Redaktions-Großraumbüro als Kommandozentrale für die Zeitungsherstellung, was die Organisation der redaktionellen Zeitungsherstellung grundlegend verändern sollte und am Anfang für viele Redaktionsmitarbeiter gewöhnungsbedürftig war. Der Vorteil der direkten Kommunikation in einem Raum stellte allerdings einen enormen Zeitgewinn dar.
Vor allem gab es mit dem neuen Gebäudekomplex spürbare Verbesserungen bei der Versorgung der Zeitungsbelegschaft inklusive der gesundheitlichen Betreuung, zu der ein Ambulatorium mit zwei Ärzten und Schwestern, eine Zahnarztpraxis, eine Physiotherapie und eine Sauna gehörten. Im verbindenden Zwischentrakt befanden sich unter anderem Garderoben und Duschräume für die Druckerei sowie ein großer Speisesaal mit rund 400 Sitzplätzen. Küche und Kantine boten für den Dreischichtbetrieb eine rund um die Uhr Versorgung für alle Beschäftigten an. Zu erwähnen wäre der Vollständigkeit halber noch der Parkplatz mit rund 160 Pkw-Stellplätzen für Gäste und Mitarbeiter. Alles in allem also ein für damalige Verhältnisse hochmoderner Zeitungskomplex - ein Pressekombinat unter einem Dach.
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Wende und Neubeginn
Die Jahre 1989/90 waren in der DDR durch Umbruch und zum Teil sehr schmerzhafte Transformationsprozesse geprägt. Diese Veränderungen gingen auch am ND nicht vorbei. Aus dem »Zentralorgan« wird die »Sozialistische Tageszeitung«. Ein Aufbruch in pluralistische Meinungsvielfalt und wirtschaftlich unsichere Zeiten.
»Immer wieder neue Spendenaktionen? Das wäre für mich eine Horrorvorstellung geworden.«
Ein nd-Gespräch mit Wolfgang Spickermann (Physiker und Journalist; nd-Chefredakteur 1989-92)
Die Fragen stellte David König
Herr Spickermann, wie kam man eigentlich in der DDR zum »Zentralorgan«?
Wolfgang Spickermann: Ich habe im Herbst 1971 beim ND angefangen. Ich hatte gerade Physik studiert, war Forschungsstudent und bin dann abgeworben worden von der Redaktion, um an einer naturwissenschaftlichen Seite in der Wochenendausgabe mitzuwirken.
Und so wurden Sie Wissenschaftsredakteur?
Ja. Ich begann als redaktiononeller Mitarbeiter. Später wurde ich im Ressort zunächst Stellvertreter dann Abteilungsleiter. Und ab 1987 war ich dann auch Mitglied des so genannten Kollegiums - das war ein Beratungsorgan für die Chefredaktion.
Dann kam die Wende und Sie wurden im Winter 1989 Chefredakteur. War das eine Überraschung für Sie?
Eine ziemlich große sogar. Es gab einiges an Hin und Her im Herbst 1989. Im Oktober war Erich Honecker als SED-Chef gerade abgesetzt worden. Der Unmut in der gesamten DDR und auch in Teilen der ND-Belegschaft gegen die Parteiführung war nicht mehr zu kaschieren. Mit der Umbesetzung im SED-Politbüro wurde in der Redaktion die Forderung an die neue Führung immer lauter, beim »Neuen Deutschland« einen Wechsel der Chefredaktion zu bewirken.
Wurden Sie vorgeschlagen?
Es lief anders ab. Günter Schabowski, der selbst einmal Chefredakteur war und zu der Zeit in der SED-Führung für die Medien zuständig war, rief zu einer Redakteursversammlung. Er unterbreitete einen Vorschlag - aber der wurde nach einer hitzigen Diskussion abgelehnt. Das hatte es im ND noch nie gegeben. Schabowski verließ die Versammlung mit der Ansage, das »ND« möge selbst einen Geeigneten vorschlagen. Und wie immer in solchen Fällen kommt dann als gemeinsamer Nenner unterschiedlicher Interessengruppen ein Nobody aufs Tapet, das war ich.
Und Sie wurden von Schabowski akzeptiert?
Zunächst nicht. Schabowski lehnte mich ab. Aber die Lage in der DDR spitzte sich immer weiter zu. Die Kandidaten, die die neue SED-Führung gerne gehabt hätte, sagten alle dankend ab. Und so wurde ich dann überraschend am 14. November in die Politbürositzung gerufen. Dort teilte man mir mit, ich sei ab sofort der Chefredakteur.
Massenhafte Abbestellungen, ein kapitalistischer Zeitungsmarkt vor der Tür: Mit der Wende geriet ND in wirtschaftliche Turbulenzen. Wie sind Sie damit umgegangen?
Als frisch gebackener Chefredakteur war ich sozusagen der Vorstand für die gesamte wirtschaftliche Einheit ND - man sprach damals von OEB, von einem »Organisationseigenen Betrieb«. Ich war damit auch für den Verlag zuständig, musste mich also nicht nur um die inhaltlichen Auseinandersetzungen kümmern, sondern auch um den Rest.
Also um das, was heute ein Geschäftsführer macht?
Genau. Der Rest sah so aus: Die ursprünglichen Planungen für ND hatten für 1990 Subventionen von 70 Millionen DDR-Mark vorgesehen. Von diesen schon eingeplanten Mitteln kam dann natürlich gar nichts mehr - und alles drohte den Bach herunterzugehen. Von 1,1 Millionen Lesern Anfang 1990 hatten wir am Ende des Jahres vielleicht noch 100.000. Und zu den ökonomischen Problemen kamen noch die dazu, die die Treuhandanstalt dem ND machte. Ab Juli 1991 standen wir unter Verwaltung dieser Behörde.
Was bedeutete das?
ND durfte plötzlich nicht mehr eigenhändig wirtschaften. Dieser Versuch, die Zeitung zu blockieren, hätte ihren Untergang bedeutet, wenn wir nicht schon 1990 alle wichtigen Dinge – insbesondere riesige Investitionen in die Satztechnik – gemacht hätten. Wir haben uns gegen die Zwangsverwaltung natürlich gewehrt. Eine Woche lang stand über dem Zeitungskopf »Die einzige deutsche Zeitung unter direkter Regierungsaufsicht«. Das war ein Tabubruch.
Wie reagierte die Treuhandanstalt?
Nach einer Woche rief mich der zuständige Direktor an und verhandelte über die Entfernung der Zeile: Wir durften nun wieder ohne vorherige Erlaubnis der Behörde arbeiten, die eigentlich über jede Geldausgabe entscheiden wollte. Aber uns wurde ein Limit gesetzt im Volumen der bisherigen monatlichen Umsätze. Im Impressum haben wir weiterhin klargestellt, dass ND praktisch unter Regierungsaufsicht steht. Wir haben hartnäckig Widerstand geleistet und wollten einfach nicht untergehen. Wir sind dann schon nach kürzester Zeit aus der treuhänderischen Verwaltung entlassen wurden, obwohl das per Gesetz eigentlich gar nicht möglich gewesen wäre.
Das Geld fehlte aber doch immer noch.
Ja (lacht), das ist eine spannende Geschichte. Die Treuhandanstalt beauftragte eine namenlose zwielichtige GmbH, eine Status quo-Analyse zu erstellen. Die stellten eine zunächst erstaunlich positive Diagnose. Allerdings nur, wenn das ND sechs Millionen D-Mark für Investitionen bekommt, wir ein bisschen den Inhalt ändern und die PDS ihre Anteile verkauft. Ich hatte als Geschäftsführer andere Zahlen und andere Expertisen erstellt, die von der Treuhandanstalt aber sämtlich ignoriert wurden. Stattdessen drängten die bei Gregor Gysi, dass die PDS ihre Anteile verkauft. Ich sagte ihm, er solle die Finger davon lassen. Geld brauchten wir aber dennoch, wenn auch wesentlich weniger als die in den Raum gestellten sechs Millionen. Wegen der unübersichtlichen Finanzsituation unmittelbar nach der Entlassung aus der Treuhandverwaltung haben wir dann eine Spendenaktion gestartet. Der Beginn fiel in die Faschingszeit, also haben wir am 11.11.1991 die Leserinnen und Leser gebeten: Wir brauchen eine Million, und wenn jeder von euch 11,11 D-Mark bis Silvester überweist, sind wir aus dem Schneider. Und so kam es dann.
Hat Sie diese enorme Solidarität der Leser überrascht?
Eigentlich nicht. ND hatte sich ganz basisdemokratisch als linke pluralistische Zeitung neu erfunden. Wir haben klargestellt, dass wir uns von der Partei nicht mehr reinreden lassen. Das hat ND verändert - zum Besseren. Wir hatten namhafte Autoren im Blatt, auch ehemalige Oppositionelle aus der DDR. Und die Leser, die wir noch hatten, standen wirklich zu ihrem Blatt.
Aber auch eine Million ist irgendwann alle. Die Auflage sank weiter. Hatten Sie zwischenzeitlich keine Angst, dass es das ND bald nicht mehr geben würde?
Immer wieder neue Spendenaktionen? Das wäre für mich eine Horrorvorstellung geworden. Mein Job war es, eine Struktur zu finden für eine Zeitung, die sich selbst finanziert. Wir mussten Personal abbauen, haben aber zugleich neue Technik eingeführt. Ich habe mich international damals umgesehen bei anderen ehemaligen Parteizeitungen. Es zeigte sich ja schnell, dass man auch mit kleiner Auflage als Zeitung ziemlich lange überleben kann, wenn man keine großen Fehler begeht. Ich galt vermutlich als der größte Optimist in der Zeitung damals.
Die Zeitung hat bis heute überlebt. Hätten Sie damals geglaubt, dass es im Jahr 2016 noch eine sozialistische Tageszeitung gibt?
Die Zeitung ist für mich immer auch ein politisches Kulturgut gewesen, schon wegen der Entstehungsgeschichte. Ich bin sehr froh, dass es sie bis heute gibt und hoffe, dass das noch eine Weile so bleibt.
Was wünschen Sie einer 70-jährigen?
Sich immer auf die eigene Kraft zu besinnen und sich nicht instrumentalisieren zu lassen. Das ist eine Lehre aus der Geschichte dieser Zeitung. Sie lebt nur mit ihren Lesern, und die müssen im Mittelpunkt stehen. Wichtig ist auch, dass technisch, insbesondere in Fragen der Digitalisierung, der Anschluss nicht verpasst wird. Das ND ist da im Vergleich zu anderen Blättern etwas ins Hintertreffen geraten.
PDF zum Download Für Sie enthüllt: »Ordnung für den Umgang mit Zeitungen und Zeitschriften aus dem kapitalistischem Ausland«
Die LeserInnen
Was wäre eine Zeitung ohne ihre LeserInnen? Nichts. Genau. Nicht zuletzt aus diesem Grund stehen beim »nd« die Leserinnen und Leser im Mittelpunkt. Im Laufe der Geschichte der Zeitung bildeten sich zahlreiche Aktivitäten mit und für die AbonnentInnen und GelegenheitsleserInnen. Einige sind hier näher vorgestellt. Andere sollen natürlich nicht unerwähnt bleiben: das nd-Rennsteigteam, unsere Velothon-Mannschaft, der nd-Schreibwettbewerb und die nd-Filmreihe im Kino Toni.
Wanderverein mit Zeitung
Das »nd« ist der einzige Wanderverein, der eine eigene Tageszeitung herausgibt. Seit 1969 gibt es die nd-Wanderung, immer im Frühjahr und im Herbst, 1970 gab es zusätzlich noch einen Termin im Sommer. Glaubt man den internen Statistiken, sind exakt 170 528 Leser bei den bisher insgesamt 94 Wanderungen mitgelaufen und haben dabei zusammen mehr als 1,5 Millionen Kilometer zu Fuß zurückgelegt – also ein Vielfaches der Entfernung vom Nordpol zum Südpol, die Luftlinie knapp 20 000 Kilometer beträgt. Die Rekordbeteiligung von 4062 Lesern im Frühjahr 1983 in Berlin-Köpenick wurde exakt zehn Jahre später wieder erreicht, diesmal in Strausberg. Los ging es einst als Orientierungslauf, bei dem der Weg mit Karte und Kompass gefunden werden musste. Heutzutage ist die Strecke ausgeschildert. Orientierungslose nd-Leser sind undenkbar. Denn wer die Zeitung abonniert hat oder am Kiosk kauft und auch liest, ist schließlich bestens orientiert – über Politik, Kultur, Wirtschaft, Sport und den Wanderverein, der eine eigene Tageszeitung herausgibt.
Reisebüro
Die erste Leserreise von »neues deutschland« führte im November 1990 nach Athen. »400 Leser wollten daran teilnehmen«, weiß nd-Redakteurin Gabi Kotlenko, damals eine der Reisebegleiterinnen. »300 konnten letztlich nach Griechenland fahren. Einer hatte hinter sein Alter sogar den Zusatz: ›jünger aussehend!‹ geschrieben, weil er befürchtete, mit seinen 86 Jahren ansonsten keinen Platz abzubekommen«, erinnert sie sich.
70000 nd-Leser werden es 25 Jahre später sein, die »mit links durch die Welt« reisten. Ganz im Sinne von Goethe, der davon überzeugt war: »Die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen.« Demnach dürften Rita und Rolf Schubert zu den gebildetsten nd-Lesern gehören, denn die Berliner waren bereits über 50 Mal mit ihrer Zeitung unterwegs.
Feste feiern
Am 1. Juni 1958 wurde um sieben Uhr morgens das 1. ND-Pressefest durch Musikkorps und Spielmannszüge der NVA und Volkspolizei eröffnet. Zwischen Strausberger Platz und Frankfurter Tor gab es 16 Stunden lang über 200 Veranstaltungen auf 30 Bühnen und Plätzen: Zwei Dutzend Orchester, Jazz- und Tanzkapellen, sieben Modenschauen, Sportveranstaltungen…Das Programm war vielfältig und breit gefächert. Auch beim »Starkasten«, wo in neun Boxen Filmlieblinge saßen und Autogramme gaben. Nicht wenige Besucher warten stundenlang auf den Filmschauspieler Günther Simon, der an diesem Tag noch bei Dreharbeiten in Görlitz weilte und erst gegen Abend per »Aerotaxi« eingeflogen wurde. Insgesamt wurden an diesem Tag 300000 Besucher gezählt.
Der 1. Juni war als Veranstaltungsort bestimmt worden, da vor 110 Jahren, am 1. Juni 1848, die von Karl Marx geleitete »Neue Rheinische Zeitung« zum ersten Mal erschien. Auf der am Nachmittag des Pressefestes stattfindenden Großkundgebung würdigte dies Otto Grotewohl als »eine große und bedeutsame Tatsache«.
Im Laufe der Jahre fand das nd-Pressefest an wechselnden Orten statt: Im Volkspark Friedrichshain, am Verlagssitz in Alt-Stralau, in der Berliner Kulturbrauerei (Prenzlauer Berg), vor der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Seit dem Jahr 2014 findet das ndLive am Franz-Mehring-Platz 1 statt.
Wir laden Sie auch in diesem Jahr herzlich zum Besuch ein: Das Programm erfahren Sie hier!
PDF zum Download Für Sie enthüllt: »Leserbefragung der Abonnenten des ND (1971)«
Zeitung mit Zukunft
Wir schauen zurück – und nach vorn. Auf eine Zeitung, zwei Leben und sieben Jahrzehnte. Und wir machen weiter. Wenn Sie wollen: noch 70 Jahre. Wie die Zukunft aussieht? Wir werden es erleben.
Früher war alles schlechter
Medien reden gern über die Krise der eigenen Branche. Alles schlimm? Ein bisschen mehr Zukunftsoptimismus könnte nicht schaden
Tom Strohschneider
Es war einmal, vor langer, langer Zeit, da konnte man mit Zeitungen viel Geld verdienen. Journalisten waren hoch angesehen, die demokratische Öffentlichkeit in einem tollen Zustand. Die Wörter Anzeigenkrise und Medienkrise waren noch nicht erfunden. Alles war super, alles war toll. Dann platzte die New-Economy-Blase und das Internet breitete sich aus. Böse, böse Welt.
Natürlich, einiges an diesem Märchen ist wahr. Das meiste aber nicht. Die demokratische Öffentlichkeit ist seit Jahrzehnten unter dem Druck ökonomischer Verhältnisse und parteipolitischer Vermachtung. Wer erst heute über die Medienkrise klagt, hat vergessen, was der private Rundfunk angerichtet hat und was bei den Öffentlich-Rechtlichen falsch läuft. Nicht nur in autoritären Regimen haben es Positionen in den Medien schon immer schwer, die auf radikale Veränderung zielen - vor allem, wenn sie von links kommen. Zunehmende Geschwindigkeit des Nachrichtengeschäfts, Konfliktorientierung statt Nachhaltigkeit und die Warenförmigkeit der Neuigkeitenproduktion sind auch ein alter Hut. Es gab Gründe, warum in vergangenen Jahrzehnten über die Notwendigkeit einer »Gegenöffentlichkeit« diskutiert wurde.
Um es anders zu formulieren: Auch wenn angesichts des Zeitungssterbens und von »Lügenpresse«-Vorwürfen der mediale Himmel derzeit nicht gerade voller Geigen hängt, könnte ein bisschen mehr Zukunftsoptimismus der Medienmacher nicht schaden. Wir haben zum Beispiel technische Möglichkeiten, von denen die Kollegen noch vor wenigen Jahren nicht zu träumen wagten.
Computer können zum Beispiel heute vollautomatisch Abermillionen Meldungen pro Tag herstellen. Nein, die Roboter nehmen den Journalisten nicht den Job weg. Aber vielleicht langweilige Arbeiten. Und dann hätten wir mehr Zeit für die spannenden Recherchen. Die leichtere Verfügbarkeit und billigere Produktion von Virtual Reality eröffnet ganz neue Potenziale auch des journalistischen Erzählens. Riesige Datenmengen können heute viel leichter zum Stoff von Recherchen werden, weil uns Computer dabei helfen, sie auszuwerten. Nicht zuletzt: Früher gab es praktisch nur zwei Orte, an dem wir die Leserinnen und Leser erreichen konnten: auf Papier im Briefkasten oder am Kiosk. Heute konsumieren viele Menschen in den unterschiedlichsten Weisen mediale Inhalte - und sie agieren mit denen, die früher allein die Sender waren. Journalisten werden klüger durch das Wissen der vielen.
War also früher alles schlechter? Nein, so einfach kann man es sich natürlich auch nicht machen. Denn ob und wie die Potenziale der Zukunft genutzt werden, hängt immer auch von gesellschaftlichen Mehrheiten, von dem politischen Umfeld, im Medienbereich auch von Innovation, die von Großen diktiert wird. Kein noch so toller Algorithmus nimmt uns die Arbeit politischer Analyse ab. Keine Maschine allein ändert den politischen Durchgriff auf redaktionelle Inhalte oder die ökonomische Abhängigkeit von Medien. Und kein Roboter wird so bald das entwickeln, was Journalismus ausmachen kann: Haltung. Zu der sollte aber auch gehören, nicht in Larmoyanz zu versinken. Denn was für die Gesellschaft gilt, gilt für die Medien, für linke zumal: Um uns selber müssen wir uns selber kümmern.
PDF zum Download Für Sie enthüllt: »Redaktionsstatut der Tageszeitung neues deutschland (2014)«
Mitwirkende des Projektes #nd70:
Jan Brock, Heidi Diehl, Rainer Genge, Olaf Koppe, David König, Insa Osterhorn, Ellen Sternkopf, Tom Strohschneider, Angela Wichmann, Ulli Winkler; Unter Verwendung von: »Zwischen den Zeilen« (Burghard Ciesla/Dirk Külow, Das Neue Berlin) und Sonderbeilage »70 Jahre nd«.
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