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Marc Ottiker: Apocalypse now
Besuch beim Künstler Marc Ottiker während der »Bürozeit«
Die Szenemetropole Berlin hat immer vom Irrtum profitiert: davon, dass Menschen mit einem ganz bestimmten Berlin-Bild in der Stadt aufschlugen und dann recht schnell von der Realität enttäuscht wurden. Daraufhin suchten viele dieser Leute das Weite – München, New York oder die Uckermark. Andere aber machten vor Ort ihr eigenes Ding und erfanden Berlin neu. Manche von ihnen wurden später Türsteher in irgendwelchen Clubs oder auch Kultursenator. Andere blieben sich treu und schlagen sich bis heute als Künstler gerade so durch; Menschen wie Marc Ottiker, ein Filme-, Lieder- und neuerdings auch Literaturmacher aus der Schweiz. Das »Trespassers« in Prenzlauer Berg öffnet erst am späten Nachmittag. Hier trifft man ihn öfter, hier hat er seine »Bürozeiten«.
Sein erster Berlin-Besuch sei lange her, sagt er. 1988 war das, an einem 2. Mai, der Morgen danach, Wiener Straße in Kreuzberg. Man sah verkohlte Autos am Straßenrand und notdürftig reparierte Schaufenster. Und der Freund, bei dem er abstieg, hatte den Kühlschrank voll mit Wodkaflaschen. Alles noch vom Vortag, von der Expropriation der Expropriateure, denn auch bei »Bolle« waren die Schreiben kaputtgegangen. Derlei Selbstversorgung kennt man in Zürich, wo Ottiker herkommt, natürlich nicht. »Und da sagte ich mir: Hier will ich sein. Ich will nach Berlin.« Damals war die Hauptstadt noch auf der anderen Seite der Mauer. Und natürlich war das nicht Berlin, wo ja tatsächlich Menschen wohnen sollen, die ein ganz normales Leben führen, die arbeiten gehen, ihre Kinder großziehen und im Sommer in den Urlaub fahren. Und überhaupt: Wann, bitte, war bei uns die letzte Plünderung?
Marc Ottiker jedenfalls blieb in der Stadt und bewarb sich erfolgreich um einen Studienplatz an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB). Detlev Buck hat hier studiert, Gisela Tuchtenhagen und sogar Holger Meins, der nicht nur für seinen Film »Wie baue ich mir einen Molotowcocktail?« berühmt wurde. Seit den frühen 90ern behauptet sich Ottiker als Drehbuchautor, Regisseur und mit ein wenig Schauspielerei. Mal lebt er besser, mal schlechter von der Arbeit. Über seinen Film »1/2 Miete« aus dem Jahr 2002 schrieb der Film-Dienst: »Mit digitaler Kamera in hyperscharfen Bildern aufgenommene Meditation über Entwurzelung, Unbehaustheit und Vereinsamung, die zwar wie eine noch unfertige Vorstudie erscheint, als utopischer Lebensentwurf aber für sich einnimmt.«
Einsamkeit ist sein großes Thema, auch als Musiker und Bandleader von Mo & Kapelle – wunderbar melancholische Countrymusik auf Schweizerdeutsch (»Ich loos es Geheimnis sii«). Auf den Portalen im Netz kann man die Alben der Band anhören.
Ottiker wohnt in unmittelbarer Nähe des »Trespassers«, genauer gesagt: mir gegenüber auf der anderen Straßenseite. Von meinem Fenster aus sehe ich, wenn der 58-Jährige Besuch bekommt und auch, dass er morgens gerne länger schläft. Aber deshalb wird man wohl Künstler, weil man ausschlafen kann. Und solange wir schlafen, haben wir keinen Hunger, keinen Durst, geben nicht unnötig Geld aus – alles ist gut! Wären da nicht die Dinge, die einem den Schlaf rauben …
Mit niemandem kann man besser über die Apokalypse reden als mit Marc Ottiker. Klima, Krieg und Kapitalismus sind seine Themen. Deshalb noch schnell ein Transparenz-Hinweis: Ottiker und ich sind Freunde. Auf seine Frage, was denn geschieht, wenn die AfD in absehbarer Zeit die Macht übernimmt, versuche ich ihn zu beruhigen: Mit der Erderwärmung werden auch die Umfragewerte der Grünen steigen, was Ottiker für einen Irrtum hält.
Noch vor 100 Jahren haben sich die Menschen in Kneipen getroffen, weil ihre Wohnungen zu klein waren, weil zu viele Leute auf zu enger Butze lebten. Heute gehen sie in die Kneipe, weil ihnen ihre Wohnung zu groß ist. Alois Krummenacher zum Beispiel, der Held in Ottikers Novelle »Risikoappetit«, betritt in Hausschuhen die Schankwirtschaft. Zitat: »Also in Pantoffeln, wie wir amüsiert, aber auch besorgt das Eintreten in eine Verwahrlosung befürchtend, zur Kenntnis nahmen.« Woraufhin dieser Krummenacher mit bebender Stimme anfängt zu erzählen, und »sollte das Erzählte dieses Mal auch nur bruchstückhaft den Tatsachen entsprechen, stünde die Menschheit an der Schwelle eines neuen Zeitalters …«
Mit niemandem kann man besser über die Apokalypse reden als mit Marc Ottiker: Klima, Krieg und Kapitalismus.
Was für ein ungeheuerliches Ereignis! Ein Motiv, das in der Weltliteratur nicht so oft vorkommt: Dieser Alois Krummenacher hat doch, Teufel noch mal, eine Festanstellung angenommen. Ausgerechnet er, schreibt Ottiker, der jeglicher Arbeit nur mit großer Schüchternheit und Zurückhaltung begegnete, ihr wo immer möglich, aus dem Weg ging, ja die Arbeit mied »wie das Reh die Jagdgesellschaft«. Wo fallen einem solche Metaphern ein? Nicht auf der Arbeit.
Lohnarbeit, vielleicht noch am Schalter einer Kreissparkasse, ist womöglich das letzte große Abenteuer unserer Zeit. In »Risikoappetit« schreibt Ottiker, dass bei seinem Helden gerade die konsequente Vermeidung des Broterwerbs zu skurrilen Verwicklungen geführt habe, »die er am Tresen umso ausführlicher beschrieb, je größer die Notwendigkeit der Erwerbstätigkeit wurde, etwa wenn das Angeschriebene im Bunten Hund bereits dreistellig zu Buche schlug«. Der »Bunte Hund« ist natürlich das »Trespassers«, vielleicht aber auch das Café »Kastanienbaum« in Orwells Roman »1984«. Denn darum geht es in dem Schmöker: Eine KI, eine Künstliche Intelligenz, übernimmt nach und nach die Macht. Stoff für eine Netflix-Serie.
»Neben Feuer, Erdbeben, Flutwellen, Dürren, Krieg, Vulkanausbrüchen oder Pandemien war nun ein neuer Gefahrenherd, eine neue Plage geboren. Eine Plage, die mächtig genug war, alle vorangegangen in sich zu vereinigen.« Die neuartigen binären Technologien hätten es in wenigen Jahrzehnten geschafft, nahezu alle Lebensbereiche mit einer unwahrscheinlich anmutenden Beschleunigung zu infizieren. Damit hätten sie aber auch längst überwunden geglaubte mittelalterliche Umgangsformen zurückgebracht. Der Pranger sei wieder eine legitime Form der Bestrafung: »Aberglaube und Feindschaft gegenüber den Wissenschaften erlebten eine triumphale Rückkehr. Der Pöbel konnte ungehindert in Netzwerken und Foren mit wüsten Beschimpfungen, grenzenlosem Unflat und schließlich archaischen, minutiös geschilderten Gewaltfantasien seine Dumpfheit ausbreiten.« Grund genug sich offline zu betrinken.
An der Berliner Gastronomie lässt sich gut die Gentrifizierung beobachten, wie überhaupt die soziale Teilung der Stadt. Es gibt immer mehr Spätis und Nobelrestaurants, daneben noch die Coworking Spaces für die Freelancer und die Café-Monokultur für die Yoga-Mütter vom Kollwitzplatz. Die kleine Kneipe aber von nebenan oder das Eisbein-Eck haben lange schon dichtgemacht. Will heißen: Die gesellschaftliche Mitte ist verschwunden. (Ein paar Widerstandsnester proletarischer Bierkultur existieren noch. Das »WATT« in der Metzer Straße zum Beispiel, für Leute, die meinen, ein Leben ohne Lungenkarzinom werde überbewertet. Leider aber wurde der Vertrag zum 30. September gekündigt, vermutlich wegen Lärm. Mo & Kapelle geben an diesem Dienstag im WATT ein Solidaritätskonzert, was ein wenig kontraproduktiv klingt, aber auch konsequent.)
Das »Trespassers« nun, wo Marc Ottiker während seiner »Bürozeiten« den Autor empfängt, diese Restauration am Teutoburger Platz fällt ein wenig aus dem Rahmen; der Betreiber ist halb Ossi und halb Guatemalteke. Die Leute hier haben eigentlich immer Spaß, das Bier bei Carlos müsste es auf Rezept geben. Und Durst ist schlimmer als Heimweh.
Dieser Tage hieß es, dass Joe Chialo dieser Tage Kulturstaatsminister werde, eine völlig bedeutungslose Funktion, eine Art Frühstücksdirektor im Kanzleramt. Sollte dem so sein, hinterließe er im Kultursenat ein kaputtgespartes Ressort. 35 Jahre nach der Wiedervereinigung zweier kulturell blühender Stadthälften wird Berlin zur Provinz. Clubs werden sterben, Theater werden schließen, und Leute wie Marc Ottiker werden das Jobcenter aufsuchen, denn natürlich sind auch die Stipendienprogramme eingestellt worden. »Das Leben der Boheme«, sagt Ottiker, »können sich in Zukunft wohl nur noch die Darsteller von Künstlern leisten, aber nicht mehr die Künstler selber.«
Marc Ottiker: Risikoappetit. Edition Schelf, 80 S., br., 12,99 €.
Alben Mo & Kapelle: »Stubete«, »Oberhalb der Wahrnehmungsgrenze«, »Die Steine auf meinem Weg« zum Beispiel auf Tidal streamen.
Auftritt Mo & Kapelle: Dienstag, 15.4., 20 Uhr im WATT, Metzerstr. 9, Berlin.
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