Siegfried Unseld: Die Umstände mit dem Umstand

Der Verleger Siegfried Unseld war Mitglied der NSDAP. Mit Überzeugung hatte das wie gewohnt nichts zu tun

Mit dem Aufstieg zu einer der Geistesgrößen der Bundesrepublik ist Siegfried Unseld schnell der HJ-Uniform entwachsen. Von der NSDAP galt es dann besser zu schweigen.
Mit dem Aufstieg zu einer der Geistesgrößen der Bundesrepublik ist Siegfried Unseld schnell der HJ-Uniform entwachsen. Von der NSDAP galt es dann besser zu schweigen.

Deutschland, Land der Jugendsünden. Wie der Historiker Thomas Gruber jüngst in der »Zeit« enthüllte, ist Siegfried Unseld (1924–2002), der hoch angesehene ehemalige Suhrkamp-Verleger, 1942, mit knapp 18 Jahren, in die NSDAP eingetreten.

Glaubt man den zahlreichen Artikeln und Kommentaren, mit denen die deutschen Medien auf diese Nachricht reagierten, scheint es unter all den jungen, stolzen arischen Menschen, die in den 40er Jahren Mitglied der Nazipartei geworden sind, kaum einen Überzeugungstäter gegeben zu haben. Wer sich auf dem Höhepunkt der Deportationen in die Vernichtungslager entschloss, Parteigenosse zu werden, tat es demnach vor allem aus Unwissen, Jux und Dollerei, Naivität, jugendlichem Überschwang, »fehlender Reife« (Alexander Kluge), kurzzeitiger Amnesie oder weil er über die Machenschaften und Ziele der NSDAP leider falsch informiert war.

Dass der junge Unseld, der als Fähnleinführer beim Jungvolk der Hitlerjugend etliche Knaben anleitete und dabei »anscheinend Spaß« (»Tagesspiegel«) hatte, zu jener Zeit eine politische Überzeugung gehabt haben könnte, ist undenkbar. Vielmehr war sein Weg vorgezeichnet, wie Willi Winkler in der »Süddeutschen Zeitung« feststellte: Der Jüngling hatte schließlich Nazi-Eltern, der Parteieintritt des »sportbegeisterten Jungscharführers« nach dem Notabitur »war da nur konsequent«.

Doch über Unselds »Motivation weiß man noch nichts«. So jedenfalls formuliert es Andreas Platthaus in der »FAZ«. Vielleicht ist Unseld der Partei ja beigetreten, weil er dazu genötigt wurde. Nicht ganz auszuschließen, dass es – wenn der Geschichtsrevisionismus sich weiter so erfolgreich im Sauseschritt in die Zukunft bewegt wie zurzeit – demnächst heißen wird, die Deutschen seien von den Nazis mit vorgehaltener Pistole zum Eintritt in die NSDAP gezwungen worden.

Der »bedeutendste deutsche Verleger der Nachkriegszeit« (»FAZ«) hat über seine NSDAP-Mitgliedschaft nie gesprochen. Er war ein »Verleger, der selten schwieg, an dieser Stelle aber schon« (»Frankfurter Rundschau«). Ein Schweigen, das in der Bundesrepublik viele Jahrzehnte lang der Normalfall war. Und zwar deshalb, »weil kein Enthüllungsbedarf bestand« (»FAZ«).

Der Schriftsteller und Filmemacher Alexander Kluge teilte auf Anfrage der »FAZ« mit, Unseld habe »zu seiner Zeit als Verleger keine Möglichkeit« gehabt, »diese Mitgliedschaft zu thematisieren«. Klar, er hatte gewiss Wichtigeres zu tun: mit Schriftstellern korrespondieren, Manuskripte prüfen, Repräsentationsaufgaben übernehmen, Schecks ausstellen für Wolfgang Koeppen, Weißwein trinken mit Martin Walser, Däumchen drehen. Im kräftezehrenden Verlagsalltag blieb keine »Möglichkeit«, die eigene Vergangenheit als Parteigenosse zu »thematisieren«.

Außerdem ist »von den fünfziger Jahren bis zu seinem Tod nie gefragt worden, wie viel Einfluss die NS-treuen und antisemitischen Eltern auf seine politisch-geistige Entwicklung hatten« (»Tagesspiegel«). Und auch der Verleger selbst ist »offensichtlich nie nach einer etwaigen NSDAP-Mitgliedschaft gefragt worden« (»FAZ«). Und wenn man nicht gefragt wird, sagt man halt auch nichts. So hat man es in der Generation Unselds schon als Kind von den Eltern an der Sonntagnachmittagskaffeetafel gelernt.

Eine derzeit beliebte Entschuldungsformel lautet: Der Mann – eine »Legende«, wie ihn nahezu sämtliche Medien nennen – habe so viel für das intellektuelle Leben der Bundesrepublik getan, dass der »Umstand« (Jürgen Habermas) seiner Nazi-Vergangenheit zu vernachlässigen sei.

1951 hatte Unseld Bekanntschaft mit dem von ihm verehrten Hermann Hesse gemacht, der wiederum Gefallen an seinem jungen Fan zu finden schien und ihn Peter Suhrkamp empfahl. Schwupps! – löste sich die ganze leidige Nazi-Angelegenheit in Luft auf: Denn »mit dem Segen eines pazifistischen Nobelpreisträgers« konnte der junge Unseld »die Vergangenheit abschütteln und ein neues Leben in der Kultur beginnen … die Vergangenheit lag hinter ihm, die Kultur vor ihm« (Winkler).

So schnell kann’s manchmal gehen im Leben: Der »Umstand« war im Handumdrehen »abgeschüttelt« und »lag hinter ihm«. Auch der »FAZ« zufolge ist der Umstand, bei dem es sich tatsächlich um einen »Hintergrund« handelt, bereits »überwunden«, wenn auch noch nicht »ausgeleuchtet«: »Es gab, wie es nun scheint, einen überwundenen nationalsozialistischen Hintergrund, und er wird auszuleuchten sein.«

Doch ob nun abgeschüttelt oder überwunden: »Spielt der Umstand als solcher wirklich eine Rolle für die Beurteilung der Lebensleistung dieses Mannes?«, fragt etwa Jürgen Habermas. Am Umstand als solchem hat auch der Suhrkamp-Dichter Rainald Goetz nichts zu beanstanden: »Ich finde auch nicht, dass irgendjemand die Fehler früherer Zeiten, gerade die der Jugend, irgendwann öffentlich bekennen, bedauern, revidieren muss; es reicht doch, wenn man nicht an ihnen festhält und ein möglichst gutes Leben aus diesen Fehlern zu machen versucht – und das hat Siegfried Unseld ja getan.«

Glaubt man den deutschen Medien, scheint es unter all den jungen stolzen arischen Menschen in der Nazipartei kaum einen Überzeugungstäter gegeben zu haben.

Nach dieser Logik, in der nachträglich die Nazi-Gesinnung eines Menschen und seine diesbezügliche Einsatzfreude zusammenschrumpfen auf einen »Fehler früherer Zeiten«, den man als unerfahrener junger Erwachsener gemacht habe, hat sich pünktlich im Mai 1945 ein nicht unerheblicher Teil der Deutschen freigesprochen.

Die Schriftstellerin Judith Schalansky fragte in der »FAZ«: »Ließe sich Unselds verlegerische Arbeit nicht gerade auch als Überschreiben dieses biographischen Fakts lesen – viel mehr als das, was jetzt so groß und raunend ›verschweigen‹ genannt wird?« Was wohl ungefähr so viel heißen soll wie: Hat der verdienstvolle Nazi durch jahrzehntelange Leitung eines angesehenen Literaturverlags seine Nazi-Jahre nicht längst erfolgreich getilgt bzw. verschwinden lassen? Und sind die, die jetzt auf die einstige Nazi-Überzeugung des großen Verlegers hinweisen und dabei angeblich irgendetwas »raunen«, nicht die eigentlichen Spitzbuben in dieser Angelegenheit?

Hier zeigt sich die andere beliebte Strategie des Umgangs mit der NSDAP-Mitgliedschaft des ehrwürdigen Verlegers: den Überbringer der Nachricht zu tadeln und ihm unlautere Interessen zu unterstellen. So äußerte sich etwa der Literaturkritiker Helmut Böttiger auf Deutschlandfunk Kultur: Es gehe nicht an, Günter Grass und Siegfried Unseld, die für die Demokratisierung der BRD in den 50ern und 60ern »sehr viel geleistet« hätten, »schwarze Löcher in der Biografie anzudichten. Das ist ein vollkommen falscher Akzent und nur einem journalistischen Sensationsbedürfnis geschuldet.« »Angedichtet« aber, wie Böttiger unterstellt, wurde hier niemandem etwas, schon gar kein Loch.

Schalansky würde gerne den verstorbenen Unseld befragen können, »um zu begreifen, um welche Form des bewussten oder unbewussten Vergessens oder Nicht-mehr-erinnern-Könnens es sich in diesem konkreten Fall handelt«. Auch ohne ausgebildeter Historiker zu sein, kann ich ihr und den anderen, denen das Begreifen hier schwerfällt, genau sagen, um welche Form des bewussten oder unbewussten Vergessens oder Nicht-mehr-erinnern-Könnens es sich in diesem und zahlreichen anderen Fällen (Grass, Walser, Walter Jens, Siegfried Lenz, Dieter Hildebrandt) handelt: um die deutsche. Genauer: um die spezifisch deutsche Form des Nichts-mitbekommen-Habens, Nichts-gewusst-Habens, Nicht-dabei-gewesen-Seins, des Nicht-erinnern-Könnens und Nicht-darüber-sprechen-Wollens, die hierzulande erstaunlich weitverbreitet war und ist.

Vielleicht hilft beim einen oder der anderen unter den nach 1940 Geborenen ein Blick ins Fotoalbum der Eltern und Großeltern. Es wird sich gewiss nach nicht allzu intensiver Suche schon ein Foto finden, auf dem der Opa, als er noch schneidig war, in Uniform oder die Mama mit Hitlergruß zu sehen ist. Gut möglich aber auch, dass sich keines findet und sich auch leider keiner mehr erinnern kann.

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