Der Aufhaltsame Aufstieg der Rechten
Zum Ausgang der letzten Wahlen: Die Antwort auf rechte Erfolge ist linke Politik – sonst nichts. Ein Beitrag zur Debatte von Thies Gleiss
1.
Die Wahlen zu den hessischen Kommunalparlamenten und den Landtagen von Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Baden Württemberg haben ein überragendes Ergebnis: Rechte Parteien, allen voran die Alternative für Deutschland, aber nicht nur die, haben so großen Zulauf erhalten, dass in allen Wahlanalysen zurecht von einem breiten Rechtsruck in Deutschland gesprochen wird. Es ist der AFD, der NPD und anderen rechts-populistischen Parteien und Listen bei allen Wahlen gelungen, einen großen Teil der bisherigen Nichtwähler*innen zu mobilisieren. Die Wahlbeteiligung 2016 in den drei Ländern, die bereits 2011 wegen des Reaktorunglücks in Fukushima den bis dahin seit 1990 fortdauernden Niedergang der Wahlbeteiligungen unterbrochen hatte, stieg entgegen des Trends aller vorhergehenden Wahlen (mit dem Sonderfall 2011) noch einmal deutlich um 5-10 Prozent an. Die AFD konnte erfolgreich das Thema Flüchtlinge nutzen, um ihr Wählerpotenzial voll zu mobilisieren.
Eine oberflächliche Betrachtung, die leider dennoch sehr verbreitet ist, könnte zu der Annahme verleiten, das Thema Flucht und Migration nach Deutschland hätte die seit 1990 fast kontinuierlich wachsende, aber noch meistens unspezifische Legitimationskrise der etablierten Parteien CDU, CSU, SPD, FDP und Grüne – die ja gerne auch als die Neoliberale Einheitspartei Deutschlands zusammengefasst werden – in einem Punkt auf die Spitze getrieben. Oder, wie es auch in den Reihen der LINKEN viel zu hören ist: Die herrschenden Parteien haben in der Flüchtlingsfrage die Quittung für ihre Politik des Sparens und des Sozialabbaus erhalten. Oder ganz platt: Die Wahl der AFD ist eine von der LINKEN positiv aufzugreifende Kritik an der Regierung.
Die AKL hält diese Schlussfolgerung für falsch und gefährlich, weil die Politik leider nicht so einfach funktioniert.
Die Wahl der AFD ist aus der Sicht der bisherigen Regierungsparteien natürlich so etwas wie eine Protestwahl. Aus der Sicht der AFD ist das allerdings ein ernstzunehmender inhaltlich eigenständiger Wahlakt und keineswegs ein von anderen Motiven gelenkter »Denkzettel« an die da oben, eventuell gar von fehlgeleiteten armen Schäfchen, die eigentlich was Gutes und Linkes tun wollten.
Die Unterstützung bei den Wahlen für die AFD ist dabei kein Bruch mit der herrschenden Politik und ihrer Parteien. Wer Programm und Auftreten der AFD – oder der mit ihr zusammengehenden Pegida- und sonstigen Kundgebungen – untersucht, stellt sofort fest, sie sind nichts als eine etwas rigidere Zusammenfassung der neoliberalen Zielsetzungen: Leistung muss sich lohnen, Familien- und deutsche Werte müssen gepflegt und erneuert werden; die Faulen und Sozialschmarotzer müssen ausgrenzt werden; staatliche und gewerkschaftliche Regulierungen und Einspruchsrechte müssen abgebaut werden; Sozialleistungen sollen minimiert und vom Wohlverhalten abhängig gemacht werden; das ehrliche und schaffende Kapital muss gestärkt werden und deutsche Interessen sollen uneingeschränkt Vorrang haben. Allein beim Thema Europäische Union beruft sich die AFD auf Positionen, die nur eine Minderheit der politischen Vertretung des deutschen Kapitals einnimmt. In allen anderen Fragen ist die AFD sofort kompatibel mit CDU und CSU und der SPD sowie mit der Mehrheit der Grünen. In allen Parteien – von Duisburger SPD-Mann Duda oder Thilo Sarrazin, über die CSU-Granden bis zum Tübinger Grünen-Bürgermeister Palmer – werden ähnliche Positionen vertreten. Die AFD verkauft sich lediglich als eine unverbrauchte Kraft, die weniger Rücksicht nehmen muss und fordert Politik, die mehr der direkte Vollzug der Regierung und Verwaltung, wenn nicht gar einer einzelnen Führungsfigur ist.
Dazu passt auch, dass die Wahlen von den Parteien noch am erfolgreichsten überstanden wurden, die einen oder eine populäre Ministerpräsident*in aufbieten konnten. Es waren in diesem schlechten Sinne Personenwahlen.
Es handelt sich damit um eine klassische rechts-nationalistische Mobilisierung, wer will kann auch gerne »vor-faschistisch« sagen. Sie speist sich aus der politischen und personalen Zerstritten- und Verschlissenheit der etablierten Parteien, ihres Scheiterns in der zentralen politischen Orientierung, des Aufbaus der EU, und bedient sich hemmungslos an der Saat, die von diesen etablierten Parteien seit Jahren in der Sozial- und Bildungspolitik gelegt wurde.
Der Aufschwung der Rechten ist untrennbar mit der Politik der Regierung verbunden, egal ob als »rot-grüne«, »schwarz-gelbe« oder »schwarz-rote« Koalition umgesetzt. Er ist aus der Mitte der Gesellschaft entstanden – da wo angeblich die Wahlen gewonnen werden, wie die flachgeistigen Wahlanalytiker aller Parteien stets vermuten. Getragen wird die AFD und der rechte Mob von Pegida, Hogesa und wie er sich immer nennt, von Mittelschichtsangehörigen, die Angst vor Absturz und Verarmung haben und auf der Suche nach Sündenböcken für ihre Krisenängste sind – das dürfen mal die muslimischen Migrant*innen, mal die Kriegsopfer aus den zerstörten Teilen der Welt, mal die Erwerbslosen und Behinderten im eigenen Land sein.
Leider waren sie aktuell sehr erfolgreich, große Teile der Arbeiter*innenklasse, vor allem der Jung- und Erstwähler*innen für sich zu gewinnen und ihnen ihre einfache Sündenbock-Geschichte zu erzählen. Mit Auflehnung gegen die Regierungsparteien hat das nichts zu tun, eher mit Enttäuschung, dass ihre bisherige entpolitisierte und entpolitisierende Treue zu diesen Parteien nicht gedankt wurde.
Das politische Selbstverständnis der AFD und ihrer vulgären Anhänger*innen ist also nicht Kritik an der Regierungspolitik, sondern vielmehr der Wunsch nach deren brutaleren Vollstreckung.
2.
Es ist auf dem Hintergrund dieser Analyse kein Zufall, dass CDU, CSU, Grüne und FDP, neben dem ihrer wahltypischen Phraseologie und Trauerarbeit angesichts der Verluste an Zuspruch, in der Praxis nur eine Handlungsrichtung kennen: Wir müssen der AFD das Wasser abgraben, indem wir die schmutzige Arbeit zum Abschotten Europas vor den Flüchtlingen und die rücksichtslose soziale Ausgrenzungspolitik gegenüber Armen und Schwachen wieder selber und noch konsequenter durchführen. Sie reden nicht mehr nur von Obergrenzen und Kapazitätsbeschränkungen, sondern sie führen sie durch. Das gängige Schema ist schon aus früheren Zeiten bekannt, auch bei den vorherigen Beschneidungen des Asylrechts: Wir müssen den Forderungen der AFD entgegenkommen, »um Schlimmeres zu verhüten«.
Bei allen drei Landtagswahlen sind die amtierenden Koalitionsregierungen abgestraft worden. Wie bei Abstrafungen üblich, die keine andere Regierungspolitik, sondern nur eine konsequentere Umsetzung wollen, wird dabei gern die Koalitionspartnerin besonders getroffen, die für die Verzögerung in der Umsetzung einer systemerhaltenden Politik als besonders verantwortlich angesehen wird. Die SPD in Baden Württemberg und Sachsen-Anhalt, die Grünen in Rheinland-Pfalz.
Das politische Herrschaftsmodell in Deutschland mit stabilen Parlamentsmehrheiten aus möglichst wenig Parteien hat weiterhin an Ausstrahlung verloren. Der jahrzehntelang gepflegte Politikstil der schleichenden Entmachtung der Parlamente zugunsten von »Macher-Regierungen« und vorgeblich dem »Volke dienenden Expert*innen« – der natürlich stets durch die Realität aus Pöstchengeschacher und offener wie verdeckter Korruption der Politikerkaste konterkariert wurde – wird von der Wahlbevölkerung immer weniger geglaubt. In diesem Sinne waren auch die Wahlen vom 13. März 2016 ein weiterer Baustein in der Vertiefung der Legitimationskrise der herrschenden Politik.
Es ist nicht davon auszugehen, dass diese Situation dafür genutzt werden wird, die grundlegende Krise des bürgerlichen Parteien- und Parlamentssystem dahingehend aufzulösen, dass Minderheitsregierungen in den Blick geraten, die parlamentarisch um die Sache ringen und sich jeweils Mehrheiten für die konkrete Politik erarbeiten müssen. Das wäre keine per se antikapitalistische Entwicklung, würde aber immerhin ein wenig mehr reale Politik in das Parlamentsgeschehen zurückholen, in das dann auch eine linke Opposition besser und lohnender eingreifen könnte.
Es bedarf eigentlich keiner besonderen Erwähnung mehr, dass die drei Landtagswahlen eine weitere krachende Ohrfeige für die Anhänger*innen der »Lagertheorie« bedeuten. Wir haben dafür schon seit langem nur noch Spott übrig, trotzdem gab es vor diesen Wahlen und – wenn man die verzweifelten Rufe aus der LINKEN in Berlin oder des Forum Demokratischer Sozialismus nach »Rot-Rot-Grünen« Regierungen hört – gibt es selbst heute noch Unermüdliche, die behaupten, es gäbe eine politische Lagerteilung in Deutschland zwischen einem reformatorischen Block aus SPD, Grüne und LINKE sowie einem konservativen Block aus CDU, CSU und FDP, die sich über die tagespolitischen Entscheidungen und Einzelwahlen hinaus, zu festerer Gemeinsamkeit verschworen hätten. Wir machen es deshalb kurz: Wir wünschen uns jetzt nur noch, dass wir mit diesem Scheiß nicht länger belästigt werden.
Wie sehr die »Theorie« der politischen Lager selbst den guten Geschmack auf den Hund bringen kann, zeigt sich an den jüngsten Vorschlägen eines ihrer begeisterten Anhänger, Gregor Gysi: Das Lager der angeblich Guten wird durch ihn kurzerhand aufgelöst und gleich wieder neu definiert, so dass er fröhlich eine Koalition mit der CDU in Sachsen-Anhalt ins Gespräch bringt. Politik ist keine Talkshow und kein Balzspiel von Radaubrüdern – wenigstens nur zum kleinsten Teil – sondern die Auseinandersetzung über gesellschaftlich divergierende, eben Klasseninteressen. Das sollte auch eine der Erkenntnisse des Rechtsruckes in Deutschland bei den letzten Wahlen sein. Vielleicht kann das mal jemand dem Genossen Gregor sagen.
3.
Der Niedergang der SPD von einer, wie es im fast sechzig Jahre alten Godesberger Programm angelegt wurde, linken Volkspartei zu einer x-beliebigen bürgerlichen Partei, die sich nach den Pfründen der Machtbeteiligung sehnt, und dafür jeden Preis bezahlt, um als Geschäftsführerin des Kapitals angenommen zu werden, schreitet unermüdlich fort. Es spricht viel dafür, dass wir hier zum vielleicht letzten Mal aus Sicht der LINKEN der SPD ein besonderes Kapitel bei Wahlnachbetrachtungen widmen. Zukünftig wird sie mit den anderen bürgerlichen Parteien im Paket abgefrühstückt.
Die Wahlen vom 13. März betrafen ein Fünftel aller Wähler*innen in der Bundesrepublik. Die SPD erreicht bei ihnen nicht mehr als das 20-Prozent-Ghetto. Wir empfehlen allen, das Interview anzuhören, das der alte SPD-Sozialpolitiker Rudolf Dressler dem Fernsehmagazin Monitor gegeben hat. Selbst das so tapfer gefeierte Resultat der SPD in Rheinland-Pfalz (36,2 Prozent) gehört immer noch den zu den schlechtesten Ergebnissen, die die SPD in diesem Bundesland erzielt hat – wo sie nach dem Abgang von Helmut Kohl lange Jahre die Regierung gestellt hat. Die SPD hat keinen »linken Flügel mehr, er wurde systematisch weggemobbt«, stellt Dressler fest. Der qualitative Sprung im Niedergang der SPD liegt jetzt schon über zehn Jahre zurück, es ist die Politik von Hartz IV und der Agenda 2010. Und immer noch wird die Partei von der gleichen Personalriege dominiert. Die habe keine sozialpolitischen Ideen mehr und zerschlage weiterhin die sozialen Sicherungssysteme, statt ihre verheerenden »Reformen« zurückzunehmen. Wir teilen nicht den Optimismus von Rudi Dressler, dass sich dies noch einmal ändern könnte. Der gesellschaftliche Gegner einer humanen Sozialpolitik – also die Kapitalseite, deren Geschäfte die SPD so brav erledigen möchte – hat schon seit langem den Weg der »Sozialpartnerschaft« und der Verteilung wenigstens kleiner Rosinen an die unteren Klassen verlassen. Ohne eine solche integrative Verteilungspolitik wird es aber keine Wiederbelebung des Sozialdemokratismus geben. Aber wir teilen die Ansicht, dass die SPD sich selbst der Minimalvoraussetzung einer solchen Wiederbelebung widersetzt: Dem Austausch der für diese katastrophale Politik verantwortlichen Führungsriege.
In der LINKEN, auch in ihrem linken Flügel, gibt es immer noch die politische These, dass es doch noch Leute bei der SPD gebe, die für eine neue, soziale Politik, vielleicht sogar für sozialistische Ideen zu gewinnen seien und an eine Änderung der Partei glauben. Wir gehen da ganz biblisch heran: Selbst wenn es nur noch einen oder eine solchen echten Linken in der SPD gibt, dann respektieren wir ihn bedingungslos und kämpfen mit ihm, wie es im SPD-Lied so schön heißt, Seit an Seit. Aber der Haupttrend unserer Zeit ist die Abwendung der SPD – und wenn die nicht bei Rechts anlanden soll, dann muss die LINKE endlich ein politisches Selbstverständnis entwickeln, dass sie die Aufhebung der SPD ist, im dreifachen hegelschen Sinne dieses Wortes. Die LINKE ist nicht Korrektur, sondern Ersatz der SPD – das sollte doch endlich einmal klar werden.
4.
Die LINKE hat bei allen drei Landtagswahlen schlecht abgeschnitten. Dieses Bild wird durch die guten Teilergebnisse bei den hessischen Kommunalwahlen eine Woche zuvor und in den Großstädten von Baden-Württemberg nicht wirklich verbessert.
Es gibt sicherlich in allen drei Wahlkampagnen viele Einzelpunkte, die kritisiert werden müssten und besser gemacht werden können. Wir werden uns in den entsprechenden Diskussionen in den Landes- und Kreisverbänden zu Wort melden.
Hier sollen nur folgende Aspekte hervorgehoben werden:
Wie schon in der großen weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise 2007-2009 gelingt es der LINKEN auch heute nicht, die tiefe Krise des Kapitalismus für eine politische Generalabrechnung mit diesem System aufzugreifen und sich als die systematische sozialistische Opposition aufzustellen, die in ihrem Grundsatzprogramm angelegt und gefordert wird. Es gibt – im Übrigen nicht nur auf dem rechten Flügel der Partei, dem das Erfurter Programm schon viel zu links ist – wichtige politische Kräfte und Führungsleute in der Partei, die gerade in Zeiten, wo nicht die Systemreparatur, sondern die harte Systemkritik erforderlich wäre, in eine reale Beißhemmung verfallen. Ein beträchtlicher Teil der LINKEN ist im Wunsch erstarrt, der Kapitalismus möge sich doch wieder selbst aufrappeln, so dass eine neue links-sozialdemokratische Verteilungspolitik möglich wird. Das wird aber nicht passieren.
Die kapitalistische Weltwirtschaft ist nur in wenigen Sektoren aus ihrer tiefen Krise 2007-2009 herausgekommen, in den meisten Regionen dagegen in ein neues Krisenloch gefallen. Es ist nicht nur eine ökonomische Krise in Form der klassischen Überproduktion von Waren und Kapital, sondern zugleich auch eine politische Krise, in der alle großen Weltprobleme – die verheerenden »Neuordnungskriege« nach dem Ende der Sowjetunion, die erneute Zunahme von Hunger und Massenarmut in der Welt sowie die andauernde Verschärfung der Klimaschädigung durch die herrschende Produktionsweise – ungelöst bleiben.
Eine besondere Krise erfährt der zweitwichtigste Konkurrent und Wirtschaftsraum in der Welt, die Europäische Union. Sie ist aufgrund der Unfähigkeit, das große wirtschaftliche Gefälle in ihren einzelnen Mitgliedsländern in den Griff zu bekommen, in eine fast existenzielle Krise ihrer Gemeinschaftswährung Euro, ihrer politischen Strukturen und des sie begründenden Verfassungsprozesses und Vertragswesens und vor allem ihrer Legitimation bei den Millionen von Menschen in den 28 Mitgliedstaaten geraten. Das fürchterliche Erpressen der griechischen Bevölkerung, sich dem Diktat der Troika und der Politik aus Berlin zu unterwerfen, hat die EU in ihren Grundfesten erschüttert, was von keinem ihrer Gründungsverträge auch nur theoretisch vorgesehen war. »Die EU ist in einer schlechten Verfassung«, wie Herr Juncker so treffend feststellte. Die Währungs-, Struktur- und Legitimationskrise der EU werden seit gut einem Jahr auf eine zusätzliche besondere Weise verschärft. Der unvermeidbare Kollateralschaden von Weltneuordnungskriegen, Umwelt- und Klimazerstörung sowie des weltweiten Freihandels setzt sich in Form einer neuen Fluchtbewegung von Hunderttausenden von Menschen in die reichen Länder Europas, insbesondere nach Deutschland auf die politische Agenda.
Die drei Landtagswahlen vom 13. März waren deshalb mehr als fast alle Wahlen zuvor, nicht von Landesthemen geprägt, sondern schärfer noch als die Wahlen unmittelbar nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima 2011 von Bundes- und internationalen Themen. Es stand sozusagen die Systemfrage auf der Tagesordnung – versteckt in solchen Parolen, wie »Obergrenzen für Flüchtlinge«, »europäische Lösung der Tagesfragen«, »Zukunft der EU« und wie die Szenarien sonst noch alle hießen. Eigentlich müsste dies eine Sternstunde für eine antikapitalistische, systemkritische Linke sein.
Aber die LINKE ist an dieser Situation gescheitert, zumindest ist sie ihr nicht gerecht geworden. Nötig wäre zunächst eine kleine, aber ernsthafte Selbstkritik der LINKEN erforderlich gewesen. Ihre Verherrlichung der EU als angeblich »linke Idee«, wie in den letzten Parteitagsbeschlüssen, bei der Europawahl, vor allem aber in der Griechenlandkrise und angesichts der Flüchtlingsbewegung regelmäßig geschehen, sowie die Scheu, die EU als das kapitalistische Wirtschafts- und Profitsicherungsbündnis zu verurteilen, das sie ist, hätten in eine harte, systematische Kritik der EU umgewandelt werden müssen. Schon das hätte eine für alle Gegner*innen und Opfer der EU-Politik, für alle Enttäuschten, die ihr Heil bei der AFD suchen, eine echte Alternative dargestellt.
Alle Regierungsparteien gehören zu den Architekten dieser verkorksten kapitalistischen Europaunion. Die LINKE ist die einzige, die Theorie und parteiliche Geschichte mitbringt, dieser Sackgasse aller Regierungsparteien eine Alternative entgegen zu stellen. Sie hat in den Wahlkämpfen mit diesem Pfund aber nicht gewuchert, sondern stattdessen die ewige alte, und heute wirklich mehr kuriose als seriöse Rot-Rot-Grüne Regierungssau durchs Dorf getrieben.
Die weltweite Flüchtlingsbewegung und ihre Fokussierung auf Deutschland hat noch einmal und verstärkt die Notwendigkeit einer sozialistischen und systemalternativen Lösung auf die Tagesordnung gesetzt. Weltneuordnungskriege, failes states in Folge dieser Kriege, Umweltzerstörung und Freihandel, der ganze Volkswirtschaften ruiniert, sind keine Unfälle oder Irrtümer der Politik, sondern systematisches Ergebnis, meistens bewusst einkalkuliert, der kapitalistischen Produktionsweise. Niemand anderes als die LINKE hätte dies zum Thema machen können und die politischen Forderungen daraus auf die Tagesordnung setzen müssen:
Für eine neue sozialistische Weltwirtschaftsordnung. Für den sofortigen Stopp der Kriegseinsätze und der sie fütternden Waffenlieferungen. Für eine radikale weltweite Umverteilung zu Gunsten der armen Ländern, mindestens in Höhe der Billionen, die heute für das Kriegsgeschäft investiert werden. Für einen neuen sozialistischen Internationalismus als Alternative zu dem Muff der Nationalisten und Rassisten. Für eine menschenwürdige Aufnahme aller Flüchtlinge und Beendigung der Abschiebungen. Für eine geregelte Einwanderung und ein sofortiges Ende des Sterbens im und am Mittelmeer.
Nicht nur wir haben einen Wahlkampf der LINKEN unter diesem Motto und als politisch leidenschaftliche Ergänzung zur Solidarität und Willkommensarbeit mit den Flüchtlingen vermisst.
Die Flüchtenden haben ein Recht, nach Deutschland und das reiche Europa zu kommen und hier nur einen Bruchteil dessen zurück zu verlangen, was ihnen die kapitalistische Weltwirtschaftsordnung geraubt hat. Dieses Wirtschaftssystem tötet, hat selbst der Papst verkündet und wir müssen allen Bedrohten Schutz geben. Es gibt in Deutschland viele Ansätze einer politischen Flüchtlingsbewegung, die daran arbeitet, den Flüchtenden ein solches politisches Selbstbewusstsein zu geben – leider beteiligt sich die LINKE an dieser konkreten Gestaltung eines neuen Internationalismus nicht besonders.
Stattdessen ist die LINKE nicht aus den dunklen Schatten der angeblichen Sachzwänge herausgetreten, viele, auch führende Mitglieder der LINKEN haben sich sogar voll in die kapitalistische Logik einer so genannten »Flüchtlingskrise« hineinziehen lassen. Ist es im Falle der Abwehr der Erpressung der griechischen Bevölkerung völlig richtig, darauf zu beharren, dass die Defizite der kapitalistischen EU nur durch nationale Schutzpolitik, durch Währungssouveränität und Kapitalverkehrskontrollen zu beantworten sind, so ist im Falle der Fluchtmigration die nationale Option verheerend, öffnet nicht nur im öffentlichen Diskurs, sondern auch in der praktischen Politik alle Schleusen für den Vormarsch der Rechten und Rassisten.
Es gibt kein »Flüchtlingsproblem« oder eine »Flüchtlingskrise«. Die Zahl der Artikel, Reden und Flugblätter der LINKEN, wo diese Worte völlig unkritisch übernommen werden, ist leider riesengroß. Führende LINKE übernehmen leider immer wieder die übelsten Begriffe wie »Gastrecht«, »Belastungsgrenze«, »Obergrenzen«, um sie links zu begründen.
Selbst die in der Regel zurückhaltenden DGB-Gewerkschaften waren in dieser Hinsicht klüger als viele LINKE in den letzten Wochen. Sie haben schlicht festgestellt, dass »Deutschland« selbstverständlich alle Flüchtlinge menschenfreundlich aufnehmen kann. Das Geld dafür muss noch nicht einmal erst mittelfristig durch Umverteilung, etwa eine Millionärssteuer wie sie die LINKE fordert, aufgetrieben werden. Es wäre sofort verfügbar. Allein die Milliardenpolster, die das Haus Schäuble zurzeit besitzt, würden dafür allemal ausreichen.
Die LINKE ist zurzeit an Regierungen beteiligt, stellt in Thüringen den Ministerpräsidenten. Es ist eine Schande, dass diese Positionen nicht dafür genutzt werden, sich beispielhaft für eine andere Flüchtlingspolitik, ohne Abschiebungen und Massenlager, ohne Rücksicht auf Schuldenbremsen und angebliche Wähler*innen der AFD einzusetzen. Die »Systemfrage« kommt zuweilen sehr schnell auf die Tagesordnung auch von Minister- und Staatskanzleien – die Flüchtlingsbewegung von heute ist so ein Fall.
5.
Eine Korrektur im Umgang mit der Flüchtlingsfrage in den Auftritten vieler LINKER und in der Politik vieler Kreisverbände ist die erste Voraussetzung, um sich dem Rechtsruck in Deutschland und Europa entgegen zu stellen.
Die LINKE müsste gleichzeitig zu den Architekten breiter Einheitsfrontbündnisse gegen die AFD und ihre Auftritte sein. Ob das immer und unbedingt in Schlachten zur Verhinderung von rechten Aufmärschen stattfinden muss, kann und muss in diesen Bündnissen diskutiert werden. Ohne solche Blockadeaktionen wird die nötige Kraft nicht mobilisierbar sein, aber wichtiger noch ist die Präsenz der LINKEN als eigenständige politische Kraft mit einem sicht- und hörbaren Programm an sozialen und politischen Forderungen. Die LINKE sollte selbstverständlich auch SPD und Grüne auffordern und einladen, sich dieser konkreten Mobilisierung gegen Rechts anzuschließen – was in vielen Städten und Gemeinden auch schon seit langem passiert. Das wird allerdings nicht dadurch erleichtert, sondern eher erschwert, dass weiterhin von gemeinsamen Regierungen mit SPD und Grünen geschwätzt wird. Schon gar nicht ist eine solche Regierungsoption Voraussetzung für Einheitsfrontbündnisse gegen Rechte und Rassisten.
In den Wahlen vom 13. März 2016 hat sich die LINKE einmal mehr deutlich unter ihrem eigentlichen Wert als einzige reale Oppositionskraft im Lande verkauft. Das kann und muss sich ändern. Eines ist und bleibt aber in Zeiten wie diesen gewiss: Wer gegen die Rechten und Faschist*innen redet, der und die darf vom Kapitalismus nicht schweigen.
Thies Gleiss ist Mitglied BundessprecherInnenrat der Antikapitalistischen Linken in der Linkspartei.
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