Eine Differenz von mehr als 14 Jahren

Rolf Rosenbrock über die geringere Lebenserwartung von Armen und deren erhöhte Krankheitsrisiken

  • Fabian Lambeck
  • Lesedauer: 6 Min.
Wer in einer 
strukturschwachen 
Region zur Welt 
kommt, hat eine 
geringere Lebens
erwartung als 
Menschen in 
prosperierenden 
Gegenden. Aktuelle 
Zahlen belegen, 
wie groß die 
Unterschiede 
in Deutschland 
bereits sind.

Der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen Besserverdienern und Menschen mit geringem Einkommen nimmt zu. Sterben die Armen also immer früher?
Nein. In Deutschland ist seit der Wiedervereinigung die Lebenserwartung insgesamt um fünf Jahre gestiegen. Das klingt toll. Und es ist auch nicht so, dass das Leben von armutsgefährdeten und armen Menschen - immerhin 16 Prozent - kürzer wird. Die profitieren auch von der insgesamt gestiegenen Lebenserwartung.

Also beruhen die Meldungen über die großen Unterschiede auf falschen Zahlen?
So einfach ist das nicht. Geringverdiener und Hartz-IV-Bezieher profitieren in wesentlich geringerem Maße von dem Anstieg der Lebenserwartung als die Wohlhabenden. Und aus diesem Grund öffnet sich die Schere kontinuierlich. Neben dem Statistischen Bundesamt ist ja vor allen Dingen das Robert-Koch-Institut für die Gesundheitsberichterstattung des Bundes zuständig. Die melden uns, dass Männer aus dem untersten Einkommensfünftel im Durchschnitt 10,8 Jahre kürzer leben als das oberste Fünftel. Bei Frauen beträgt die Differenz ungefähr 8,4 Jahre. Hinzu kommt, dass Menschen aus dem unteren Fünftel im Durchschnitt 3,5 Jahre früher im Leben von chronisch degenerativen Erkrankungen betroffen sind. Das heißt, die gesunde Lebenserwartung, also die Anzahl der Jahre, die man ohne Krankheit verbringt, ist eben die Differenz zwischen Oben und Unten. Sie beträgt über 14 Jahre. Das ist ein sozialpolitischer Skandal!

Zur Person

Rolf Rosenbrock ist Vorsitzender des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und leitete lange Jahre die Forschungsgruppe »Gesundheitsrisiken und Präventionspolitik« bzw. »Public Health« im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).

Wer sind denn die Menschen mit der geringen Lebenserwartung?
Armut wird in Deutschland und in der gesamten Europäischen Union ja definiert nach dem Medianeinkommen. Wer weniger als 60 Prozent davon hat, gilt als armutsgefährdet. Jene, die am meisten von Armut betroffen sind, müssen auch mit einer kürzeren Lebenserwartung rechnen. Das sind alleinerziehende Menschen, Familien mit vielen Kindern, Arbeitslose, Menschen mit niedriger formaler Bildung und Menschen mit Migrationshintergrund. Aber wir reden hier natürlich über statistische Durchschnittsgrößen. Es gibt auch Menschen, die jahrzehntelang in Armut leben und trotzdem 90 werden. Aber das sind die Ausreißer. Die Regel ist eine andere.

Wie kommt es zu den teilweise gravierenden Unterschieden? Schließlich haben doch auch Arbeitslose Zugang zum weitgehend kostenlosen Gesundheitssystem.
Das sind kumulative Effekte aus einer Vielzahl von Quellen. Das fängt mit kleineren und schlechter belüfteten Wohnungen in lauten Stadtteilen an. Das geht einher mit schlechteren Erholungsmöglichkeiten. Auch die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben spielt eine Rolle: Kinobesuch, mal ins Café gehen, mal Essen gehen, Freunde einladen oder in den Urlaub fahren. Das alles sind ja nicht nur entgangene schöne Erlebnisse. Diese nicht zu haben, bedeutet auch, nicht wirklich dazu zu gehören, also von Teilen des gesellschaftlichen Lebens ausgeschlossen zu sein. Das geht einher mit der Erfahrung, trotz großer Anstrengungen nicht wirklich was erreichen zu können. Keine Erlebnisse zu haben, die die Selbstwirksamkeit bestätigen. Wenn die Selbstwirksamkeit nicht bestätigt wird, dann führt das auch zu einem Absinken des Selbstwertgefühls. Dann sind in den unteren Schichten die sozialen Netze, also die gegenseitigen Hilfsnetze, die sich im Alltag so aufbauen, schwächer. Und diese drei Faktoren: Selbstwertgefühl, Selbstwirksamkeitsgefühl und Verankerung in sozialen Netzen sind Gesundheitsressourcen, die einen befähigen, auch mit schwierigen materiellen Bedingungen besser fertig zu werden.

Das heißt, Menschen mit einem geringen Selbstwertgefühl achten auch weniger auf sich selbst, also ihre Gesundheit?
Das hängt alles sehr unmittelbar zusammen. Wenn ich nicht planen kann, weil ich keinen Job habe, ist die Zukunftsorientierung sehr kurzfristig oder gar nicht vorhanden. Dann ist es auch ziemlich abwegig, darüber nachzudenken, ob ich heute mit dem Rauchen aufhören soll, weil ich so die Wahrscheinlichkeit reduziere, in 40 Jahren einen Herzinfarkt zu erleiden. Dann fahre ich eben lieber schnell zur Tanke und hole mir die Chemie-Fett-Pizza, anstatt mir mit dem gleichen Geld vielleicht zu Hause den gesunden Gemüseeintopf zu kochen. Das Selbstwertgefühl bestimmt eben auch, wie achtsam ich mit mir bin und was ich mir wert bin. Das Wertgefühl müsste sagen: Es ist toll, dass es mich gibt und das Leben ist es auch wert, erhalten zu werden. Selbstwirksamkeit heißt, ich kann etwas erreichen, wenn ich das will, und ich werde auch gebraucht. Was fast genau so wichtig ist. Das sind die Basis-Ressourcen, mit denen man auch schlechte Lebenslagen besser überstehen kann. Wenn jemand einen guten Job hat, dann speist dieser Job natürlich auch sein Selbstwertgefühl.

Gibt es typische Armutskrankheiten, die bei Menschen mit geringem Einkommen weiter verbreitet sind als in der Durchschnittsbevölkerung?
Die typischen Armutserkrankungen, das waren die Infektionserkrankungen des 19. Jahrhunderts - Tuberkulose vor allen Dingen. Verursacht durch schlechte Lebensbedingungen, miese Ernährung, unsauberes Wasser und nasse Wohnungen. Aus diesem Stadium sind wir raus. Die Hardware unserer Gesellschaft ist ganz gut.

Woran leiden die Armen denn heute?
Bei praktisch allen Krankheiten ist der Schichtgradient, wie wir das nennen, stark. Das geht über Herzinfarkt, Muskel-, Skeletterkrankungen, Stoffwechsel- und Lungenerkrankungen. Die machen 70 Prozent des Krankheits- und Sterbegeschehens in reichen Ländern aus und nebenbei auch 70 Prozent der Krankenversorgungskosten. Diese Krankheiten sind alle schichtenspezifisch ungleich verteilt. Das heißt, sie kommen bei den Menschen in beengten Lebenslagen oft doppelt und dreifach so oft vor wie oben. Auch die schweren Allergien sind auf der unteren sozialen Stufenleiter weiter verbreitet. Mittlere Allergien dagegen sind in den Mittel- und Oberschichten stärker vertreten.

Wenn der Bundesgesundheitsminister Sie um Rat fragen würde, welche Handlungsempfehlungen würden Sie ihm mitgeben? Wo müsste die Politik ansetzen?
Ganz kurzfristig müsste natürlich die Armutsprävention ausgebaut werden, um so Menschen aus der Armut rauszuholen. Das wird nicht gehen ohne Jobs. Man kann die nicht alle einfach subventionieren. Das bekommt den Menschen nebenbei auch nicht so gut. Das heißt, wir brauchen eine Arbeitsmarktpolitik, die auch gerade Menschen mit weniger hoher Qualifikation eine reale Chance bietet. Und wir brauchen mittelfristig eine bessere Bildungspolitik. Wir brauchen Kindergärten für alle. Wir brauchen auch Begleitung für Kinder aus beengten Lebenslagen, die ja schon durch ihr Elternhaus benachteiligt sind. Wir benötigen Präventionsketten, um besonders betroffene Familien zu unterstützen und früh Hilfen mobilisieren zu können. Man müsste den Übergang in die Schule erleichtern und begleiten. Das ist schwierig zu organisieren, weil es das Gesundheitsamt, das Schulamt und alle möglichen Behördenstellen betrifft, die nicht von sich aus zusammenarbeiten. Aber das wäre schon wieder nachgeordnet gegenüber dem, was ich dem Bundesgesundheitsminister zuerst antworten würde und nebenbei auch schon öfter geantwortet habe.

Und das wäre …
Gesundheitspolitik fängt natürlich bei Sozial-, Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik an und hört bei richtiger Wohnungspolitik noch lange nicht auf. Wir haben das Präventionsgesetz begrüßt, weil es auch diese spezielle Ausrichtung auf sozial Benachteiligte enthält, aber wir sagen: Mit Prävention kann man immer nur einen Teil der schlechteren sozialen Lage kompensieren oder abpuffern. Auch mit dem besten Präventionsgesetz der Welt könnte die soziale Ungleichheit von Lebenserwartung und Gesundheitschancen nicht bekämpft werden. Das weiß auch die Weltgesundheitsorganisation, die deshalb eine gesundheitsförderliche Gesamtpolitik propagiert.

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