Schluss mit Wachstum

In seiner neu aufgelegten Streitschrift »Befreiung vom Überfluss« argumentiert Niko Paech gegen die imperiale Lebensweise

Das Jahrestreffen des Club of Rome 1974, nachdem dieser zwei Jahre zuvor den Bericht »Die Grenzen des Wachstums« veröffentlicht hatte
Das Jahrestreffen des Club of Rome 1974, nachdem dieser zwei Jahre zuvor den Bericht »Die Grenzen des Wachstums« veröffentlicht hatte

In der Politik hat sich seit der Zeitenwende (fast) alles dem Wachstum der Wirtschaft unterzuordnen: Sondervermögen für Rüstung und Infrastruktur in Deutschland; die Europäische Union weicht ihre Regeln für Lieferketten und Klima auf; und Donald Trump schwingt in den Vereinigten Staaten den Zollhammer. Dabei kommt das Maß für Wachstum und damit für den Erfolg dieser Politik derweil ganz niedlich daher – als BIP.

Aufstieg des BIP

Das Bruttoinlandsprodukt, kurz BIP, ist die wichtigste Kennzahl in einer Volkswirtschaft. Sie ist das Maß für die gesamte wirtschaftliche Leistung in einer Periode. Da das BIP Auskunft über die Produktion von Waren und Dienstleistungen gibt, dient es als Indikator für die Leistungsfähigkeit. So ist die Bundesrepublik 2024 mit einem BIP von rund 4,3 Billionen Euro nach den USA und China die drittgrößte Volkswirtschaft weltweit. Am BIP werden zugleich Rezession oder Wachstum abgelesen. Es ist für die meisten Manager, Ökonomen und Regierungen die zentrale Kategorie, um Erfolg oder Misserfolg zu messen.

Doch wie konnte das BIP zur wirkmächtigsten Kennzahl aufsteigen? Bis 1940 waren statistische Größen unsystematisch erhoben worden. Zwar hatten Statistiker in Europa und den Vereinigten Staaten immer wieder Datenberge angehäuft, aber erst im Zweiten Weltkrieg brachten sie System in ihren Zahlen-Wust. »Die in diesem Zusammenhang zentrale Frage lautete«, so der Berliner Politikwissenschaftler Philipp Lepenies, »wie hoch ist das ›Kriegspotential‹ der amerikanischen Wirtschaft?« Bis dahin ging man allgemein davon aus, dass eine Ausweitung der Rüstungsproduktion unweigerlich zu einer Verringerung des sogenannten Volkseinkommens führen müsse.

Dies war ein starkes Argument für politische Gegner des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt. Dessen Kritiker lehnten einen Kriegseintritt gegen Hitler-Deutschland ab. Dass es sich dabei um ein irriges Argument handelte, meinte dagegen Richard Gilbert. Der Sozialwissenschaftler ermittelte für den kriegswilligen Präsidenten Roosevelt ein »Bruttosozialprodukt«, den Vorläufer des heutigen BIP – es lag 25 Prozent über den bisherigen Schätzungen! Ein cleverer Trick, jedoch einer mit einem harten Kern: Das BIP zielt nicht wie das Volkseinkommen auf private Einkommen (Verbrauch), sondern allein auf die materielle Produktion. Und die Industrie wurden von der Kriegswirtschaft tatsächlich beflügelt – übrigens, ohne dass der private Konsum einbrach.

1942 kam es daher zu einer erheblichen Ausweitung der gesamten US-Produktion und des BIP. Auch während des Kalten Krieges erfüllte das BIP seinen politischen Zweck, für Wachstumsideologie und den »American Way of Life« zu werben. In Deutschland hatte John Kenneth Galbraith, der später als linker Keynesianer und Buchautor weltberühmt wurde, im Auftrag der US-Air-Force erstmals ein BIP ermittelt: Die Amerikaner wollten mithilfe des BIP die wirtschaftlichen Bombenschäden in Deutschland beziffern.

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Masse statt Klasse

In Galbraiths Team arbeitete ein weiterer künftiger Prominenter: Jürgen Kuczynski. Der Wirtschaftshistoriker wurde später in der Deutschen Demokratischen Republik zum Kritiker der im Realsozialismus verbreiteten »Tonnenideologie«, die in der Produktion auf Masse statt Klasse setzte. Diese Kritik kann allerdings auch für das BIP gelten. In den Westzonen hatten die Statistik-Ämter dem BIP nichts entgegenzusetzen. In einer ersten Darstellung heißt es bezeichnend: »Die Berechnungsmethoden sind den in den angelsächsischen Ländern üblichen angeglichen worden.« Damit begann das BIP seinen weltweiten Siegeszug. Mit dem amerikanischen Marshallplan eroberte es zunächst den Westen, und auch für die westlich orientierten Teile der »Dritten Welt« wurde das BIP bald zum Maß aller Dinge.

Dabei hatte es von Anfang an Widerspruch gegeben. Gilberts Kontrahent Simon Kuznets, ein amerikanischer Ökonom russischer Herkunft, hielt die neue Berechnungsmethode des US-Statistikamtes für unbrauchbar. Statistik und Politik sollten sich nicht am Mittel (Produktion), sondern am Zweck (Verbrauch) orientieren – und an »der Idee des guten Lebens«.

»Ökosuizidales Gebaren«

Eine Idee vom guten Leben hat auch Niko Paech, Professor für Plurale Ökonomie an der Universität Siegen und ein profilierter Wachstumskritiker. Mit seiner neuen Streitschrift, einer Aktualisierung seines 2012 erschienenen Bestsellers, will Paech uns vom Überfluss befreien. Angesichts andauernder Umwelt- und anderer Krisen plädiert er für »die Kraft der Genügsamkeit« und den Rückbau industrieller Wertschöpfung, gegen die internationale Arbeitsteilung und das BIP. Um den Kollaps des Systems abzuwenden, sei es falsch, auf Politik (»handlungsunfähig«) und Technologie (»wirkungslos«) zu setzen. Daher kritisiert Paech selbst Bewegungen wie Fridays for Future. Sie schärften zwar das Bewusstsein für die Klimakrise, könnten jedoch nur dann problemlösend wirken, wenn sie nicht in alten BIP-Mustern grünen Wachstums verharrten: »Echte Transformation braucht einen wachstumskritischen Ansatz, der niemals ohne merkliche Veränderungen unserer Lebensführung zustande kommt.« Die Pandemie habe dazu eine historische Chance geboten – genutzt worden sei sie nicht. Dass es auch ohne BIP-Wachstum gehe, illustriert Paech mit Beispielen von Reparatur- und »Sharing«-Initiativen in Großstädten bis hin zur »solidarischen« Landwirtschaft.

Paechs Postwachstumsökonomie lässt sich als moderne Fortschreibung des 1972 veröffentlichten 200-seitigen Berichts des Club of Rome lesen, »Die Grenzen des Wachstums«. In der Analyse der erschreckenden Auswüchse des postindustriellen oder Sonst-wie-Kapitalismus mag man Paech wie anderen prominenten Degrowth-Autoren (Kohei Saito, Helge Peukert) zustimmen. Doch schwingt bei Paech ein gerütteltes Maß an philosophischem Idealismus mit: »Insoweit Kapitalismuskritik allein die unternehmerische Aneignung eines sogenannten Mehrwerts, der angeblich durch menschliche Arbeit entsteht, als ›Ausbeutung‹ versteht, greift sie viel zu kurz«, urteilt der Autor.

Zu Lebzeiten von Karl Marx sei es möglicherweise noch leicht gewesen, zwischen Ausbeutenden und Ausgebeuteten zu unterscheiden. Doch mit der zunehmenden Verbreitung des »materiellen Reichtums« auch im Globalen Süden sowie einer stetig wachsenden Distanz zwischen Verbrauch und Produktion (»Arbeitsteilung«) verschwämmen solche Grenzen. Unsere imperiale Lebensweise – sprich: exzessiver Konsum; zunehmender Güterverkehr durch Amazon und Co.; aufwendige Elektrifizierung unseres ausufernd internetbasierten Alltags; der globalisierte Tourismus – brandmarkt Paech in der Sache überzeugend, aber begrifflich heikel als »ökosuizidales Gebaren«. Dies sei keine Eliten-, sondern ein Mittelschichtphänomen, das längst auch den Globalen Süden überziehe.

Kapital ohne Wachstum?

Paechs BIP-Wachstums-Kritik kommt weitgehend geschichtslos daher. So beendete beispielsweise die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts in Europa die bis dahin grassierenden Hungersnöte. Weltweit betrug die extreme Armut in den 1960er Jahren noch 50 Prozent – beim Ausbruch von Corona waren es weniger als 10 Prozent. Gleichzeitig gingen immer mehr Mädchen zur Schule und die Kindersterblichkeit sank. Letztere messe »die Temperatur einer Gesellschaft«, schreiben Hans, Anna und Ola Rosling in »Factfulness«. In dem Buch begegnen sie gefühlten Wahrheiten über die materiellen und immateriellen Leistungen des Kapitalismus mit statistischen Fakten.

Allerdings existiert heute immer noch vielerorts existentieller materieller Mangel. So fehlt, um ein anschauliches Beispiel der Welthungerhilfe zu wählen, der Hälfte der Menschheit ein vernünftiges Klo. In Europa war die hygienische Situation vor ein, zwei Jahrhunderte ähnlich; furchtbare Folge waren heute längst ausgerottete Krankheiten wie Cholera. Was Paech kaum oder gar nicht beachtet, sind die Interessen der Kapitalverwertung, also die Profitmaximierung: Wachstum ist dem Kapitalismus inhärent. Mehrwert und Zins, aber auch die von Gewerkschaften und anderen Interessengruppen durchgesetzten Einkommenserhöhungen schreien förmlich nach Wachstum. BIP ist sein grober Maßstab.

Gerade für Leser*innen, die mit Marx und Keynes geerdet wurden, kann Paechs provozierendes Buch einen dialektischen Gewinn ergeben. Das Fazit des Autors lautet zudem: Der Wandel kommt, ob wir wollen oder nicht – entweder als bewusste Entscheidung oder als erzwungene Anpassung an ökologische und wirtschaftliche Krisen. Wenn wir über grüne Untergangsbefindlichkeiten vieler Deutscher hinwegsehen, zeigt sich: Verbessern lässt sich die Lage durch (umweltverträglichere) Regulierung des Wachstums und gesellschaftliche Umverteilung von oben nach unten. Unsere Waffe der Wahl gegen das extremistische Kapital und sein BIP ist Politik.

Niko Paech: Befreiung vom Überfluss – das Update. Eine Postwachstumsökonomie für das 21. Jahrhundert. Oekom-Verlag, 144 S., br., 18 €.

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