Workers Memorial Day: Sichtbarkeit für die Schutzlosen

Arbeitsmigrant*innen in Subunternehmen sind den Gesundheitsrisiken auf deutschen Baustellen besonders ausgesetzt

  • Paulina Rohm
  • Lesedauer: 5 Min.
Sechs migrantische Arbeiter starben auf der Baustelle des Westfield-Areals in Hamburg. Ihre Auftraggeber sind in der Masse an Subunternehmen untergetaucht.
Sechs migrantische Arbeiter starben auf der Baustelle des Westfield-Areals in Hamburg. Ihre Auftraggeber sind in der Masse an Subunternehmen untergetaucht.

Im Herbst 2023 stürzte auf der Baustelle des »Überseequartiers« in der Hamburger Hafencity ein Baugerüst in einem Fahrstuhlschacht auf Höhe des achten Stockwerks ein. Fünf albanische Arbeiter überlebten diesen Unfall nicht, die genaue Ursache ist noch ungeklärt.

Es hatte hier jedoch zuvor Hinweise von Kontrollbehörden bezüglich mangelhafter Arbeitssicherheit gegeben. Zudem kam es im Laufe der Bebauung des Areals zu unzähligen Arbeitsunfällen, beispielsweise durch Stromschläge und herunterfallende Baumaterialien. Im Januar 2022 stürzte außerdem ein rumänischer Bauarbeiter von einem Gerüst und starb. Eine interne Auswertung der örtlichen Feuerwehr habe ergeben, dass es über Monate hinweg etwa ein Mal pro Woche zu einem so schweren Unfall auf der Baustelle gekommen sei, dass die Arbeiter*innen den Notruf wählten, berichtete die »Zeit«.

Das Unternehmen Unibail-Rodamco-Westfield, dem das Gelände gehört, streitet dennoch jegliche Verantwortung für den Tod der sechs Arbeiter ab. Am 8. April dieses Jahres wurde das hunderttausende Quadratmeter große Areal mit Luxuswohnungen, Hotels, Gastronomien, Büroräumen, Kinosälen, Einzelhandelsflächen und einem eigenen Kreuzfahrtschiffanleger eröffnet. Etwa 2000 Arbeiter*innen waren an dem Bau des Überseequartiers beteiligt.

»Wenn ihnen etwas auf der Arbeit zustößt, werden sie manchmal einfach zurück in ihr Heimatland gefahren. Da werden sie dann zum Pflegefall ihrer Familien.«

Kateryna Danilova Europäischer Verein für Wanderarbeiterfragen und Beratungsstelle Freie Mobilität

Die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) erinnerte gleichzeitig zur Eröffnungsfeier an die sechs verstorbenen Bauarbeiter. Rund 100 Gewerkschafter*innen versammelten sich unter dem Motto »Ihre Mall – Unser Grab«. Bei der Kundgebung wurde auch auf das System der Subunternehmen im Baugewerbe hingewiesen, das für schlechte Arbeitsbedingungen und Lohndumping steht.

Die Baubranche und die Land- und Forstwirtschaft wechseln sich seit Jahren auf Platz eins und zwei der gefährlichsten Arbeitsbereiche ab. Die Gründe dafür sind die körperliche Beanspruchung der Arbeit, aber auch die klimatischen Einflüsse und der Zeitdruck, unter dem die Arbeiter*innen häufig stehen. Carsten Buckhardt, Vorstandsmitglied der IG BAU, warnt deshalb vor einer Produktivitätssteigerung bei gleichbleibend mangelhaftem Arbeitsschutz im deutschen Baugewerbe: »Die Menschenwürde endet eben nicht an den Toren der Fabriken, Baustellen, Reinigungsobjekte, Büros oder Verwaltungen.«

Entsprechend dem erhöhten Gesundheitsrisiko und auch der wirtschaftlichen Relevanz der Baubranche wurden hier in den vergangenen Jahren die Arbeitsschutzvorgaben gestärkt. Die Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG BAU) verzeichnete für 2023 eine Senkung der Unfallhäufigkeit auf den Baustellen: Von über 45,51 Unfällen pro 1000 Vollzeitbeschäftigten im Jahr 2022 fiel die Zahl im Jahr 2023 auf 44,55. Allerdings ist sie im branchenübergreifenden Vergleich – 18,08 pro 1000 Vollzeitbeschäftigte 2023 – immer noch sehr hoch.

Insbesondere Subunternehmen brechen immer wieder das Arbeitsschutzgesetz und gefährden dadurch die Sicherheit der Arbeitskräfte. »Je weiter die Auftragskette geht, desto schlechter sind die Arbeitsbedingungen und Löhne«, sagt Gerhard Citrich, Leiter der Abteilung Arbeits- und Gesundheitsschutz der IG BAU in Frankfurt am Main, zu »nd«. »Solche Fälle müssen eigentlich strafrechtlich verfolgt werden. Aber das ist oft sehr schwierig.« Es herrsche gerade auf großen Baustellen oft eine so lange Auftragskette von Subunternehmen, dass der Auftragsweg nicht mehr zurückverfolgt werden könne.

Migrantische Arbeitskräfte werden wegen ihres hohen Anteils an den Beschäftigten besonders häufig Opfer von Arbeitsunfällen. Sie nehmen zudem die schlechteren Arbeitsbedingungen der Subunternehmen häufiger in Kauf, weil sie auf den Job angewiesen und nicht über das deutsche Arbeitsrecht informiert seien, so die Erfahrung von Kateryna Danilova, Branchenkoordinatorin für Baugewerbe und Landwirtschaft des gewerkschaftsnahen Europäischen Vereins für Wanderarbeiterfragen und der Beratungsstelle Faire Mobilität. »Wenn ihnen etwas auf der Arbeit zustößt, werden sie manchmal einfach in ein Auto geladen und zurück in ihr Heimatland gefahren. Da werden sie dann zum Pflegefall ihrer Familien«, berichtet Danilova. Sie geht daher von einer hohen Dunkelziffer von nicht gemeldeten Arbeitsunfällen unter Migrant*innen aus.

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Danilova spricht sich ebenfalls für eine gesetzliche Begrenzung der Auftragskette für Baustellen aus. Eine Maximalzahl von drei Gliedern pro Hauptauftrag seien dabei denkbar. Die nötige Mehrheit für solch ein Vorhaben gebe es jedoch nicht, sagt Danilova. Arbeitgeber*innen seien sehr durchsetzungsstark und viele migrantische Opfer blieben unsichtbar. Deshalb sei es wichtig, auf die prekären Arbeitsverhältnisse migrantischer Arbeiter*innen aufmerksam zu machen und die Gefahren zu benennen, die mit dem derzeitigen System der Subunternehmen einhergingen.

Ein weiterer Faktor, der dazu führt, dass migrantische Arbeitskräfte ihre Verletzungen oft nicht melden, ist aus Danilovas Sicht die Sprachbarriere gegenüber Ärzt*innen und Ämtern. Deshalb müsste die Mehrsprachigkeit in den Sicherheitsunterweisungen auf den Baustellen sowie in deutschen Behörden ausgebaut werden.

Citrich fordert die Ämter dazu auf, die Zahl ihrer Kontrollen zu erhöhen. 2022 kamen deutschland- und branchenweit auf 1000 Betriebe lediglich acht Arbeitsschutzüberprüfungen. »Das wissen die Unternehmen und nutzen es aus. Anders als mit mehr Kontrollen kriegen wir dieses Chaos nicht in den Griff«, meint Citrich. Er spricht sich auch für eine fürsorgliche Kultur auf den Baustellen aus. Insbesondere Arbeiter*innen, die über ihre Betriebsräte ein Mitbestimmungsrecht und bessere Informationszugänge haben, sollten das Gespräch mit anderen Arbeiter*innen suchen. Die IG BAU ruft anlässlich des Workers’ Memorial Day am Montag, den 28. April, um 12 Uhr zu einer Schweigeminute für die Opfer von Arbeitsunfällen auf.

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