Wenn die Versicherung versagt

Statt Arbeitslosengeld I erhalten die meisten Erwerbslosen heute Hartz-IV-Leistungen

  • Fabian Lambeck
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Arbeitslosenversicherung soll Entlassene nach dem Jobverlust auffangen. Doch immer mehr Menschen rutschen gleich in den Hartz-IV-Bezug. LINKE und Grüne wollen das ändern.

Die Zahlen sind alarmierend: Nur noch 30 Prozent der Arbeitslosen beziehen ALG I, also die klassische Versicherungsleistung, die sich am vorherigen Einkommen orientiert. Hingegen sind 70 Prozent im SGB II, dem Hartz-IV-System. Nicht alle von ihnen sind Langzeitarbeitslose. So rutscht etwa ein Viertel aller Entlassenen direkt in den Hartz-IV-Bezug. Dafür gibt es mehrere Gründe: Zum einen werden viele Arbeitnehmer gekündigt, bevor sie die gesetzlich geforderte Mindesteinzahlungsdauer von 12 Monaten erreichen. Die derzeitige Gesetzlage sieht hier eine Rahmenfrist von zwei Jahren vor. Innerhalb dieser Zeitspanne müssen die Betroffenen mindestens 12 Monate lang eingezahlt haben. Wer das nicht schafft, der muss zum Jobcenter. In zwei Anträgen fordern nun die Bundestagsfraktionen von LINKEN und Grünen eine Reform der Arbeitslosenversicherung.

Die Linksfraktion plädiert unter anderem für die Ausweitung der Rahmenfrist auf drei Jahre. In einer Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales gab es in der vergangenen Woche von vielen der geladenen Experten Zustimmung für den Reformvorschlag. Gerhard Bosch, Professor für Arbeitssoziologie an der Universität Duisburg-Essen, bezeichnete die Verlängerung der Rahmenfrist als »sehr positiv«. Schließlich habe sich die Arbeitswelt verändert. Die hohe Zahl befristeter Verträge bei Jugendlichen und deren fehlende Absicherung zeige, dass es sich hier um eine »massive Problemlage« und keine Trivialität handele.

Die Kosten für eine solche Ausweitung der Frist hielten sich in Grenzen. Die Bundesagentur für Arbeit prognostizierte in ihrer Stellungnahme jährliche Mehrausgaben von höchstens 370 Millionen Euro. Deutlich teurer würde es für die Versicherung, wenn, wie Grünen fordern, auch die Anwartschaftszeiten verkürzt würden. Manfred Schnitzler von der Bundesagentur für Arbeit rechnete vor, dass eine verlängerte Rahmenfrist bei gleichzeitiger Reduzierung der Anwartschaftszeiten auf vier Monate die Arbeitslosenversicherung 1,3 Milliarden Euro jährlich kosten würde.

Bojana Markovic vom Verein für öffentliche und private Fürsorge begrüßte den Vorstoß von LINKEN und Grünen. Es sei dringend nötig, die Zugangshürden zur Arbeitslosenversicherung zu senken, um deren Bedeutungsverlust entgegenzuwirken, so Markovic. Die Vertreter der Arbeitgeberseite erwiesen sich hier als Reformmuffel. So unterstrich Anna Robra von der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA), dass die Rahmenfrist verkürzt wurde, um den bürokratischen Aufwand für die Bundesagentur für Arbeit zu verringern. Ein Problem sei hier das Erbringen der Arbeitsnachweise für einen so langen Zeitraum.

Die Grünen setzen in ihrem Antrag den Hebel woanders an und schlagen vor, dass schon nach »viermonatiger Beitragszeit ein zweimonatiger Bezug von Arbeitslosengeld möglich sein« soll. Die Anspruchsdauer würde mit der Dauer der Beitragszahlung ansteigen. Das Verhältnis von Beitrags- zu Anspruchszeiten (2:1) soll aber beibehalten werden.

Gesine Stephan vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, das die wissenschaftliche Zuarbeit für die Bundesagentur für Arbeit leistet, präsentierte Zahlenmaterial, das eindrucksvoll belegt, wie dringend der Reformbedarf ist. Derzeit gebe es etwa 40 Millionen Erwerbstätige in Deutschland von denen 55 Prozent in unbefristeter Vollzeit arbeiteten, so Stephan. Immerhin 31 Prozent seien atypisch beschäftigt, meistens als Teilzeit- oder Minijobber. Rund 16 Prozent waren Azubis oder Selbstständige. Das heißt, nur etwas mehr als die Hälfte aller Arbeitnehmer ist noch in einem klassischen Arbeitsverhältnis mit mindestens 31 Wochenstunden tätig.

BDA-Expertin Robra kritisierte, verkürzte Beitragszeiten würden Fehlanreize zu kurzzeitigen Beschäftigungen setzen und dadurch die Diskontinuität in den Erwerbsverläufen eher noch stärken. Viel wichtiger sei es, so Robra, an den Ursachen unterbrochener Erwerbsverläufe anzusetzen und die Qualifizierung der Arbeitslosen zu stärken, sagte Robra.

Gerhard Bosch machte auf einen weiteren Aspekt aufmerksam: So seien »Ein-Euro-Jobs attraktiver für Arbeitslose als langfristige Weiterbildungsmaßnahmen«, für die es kein zusätzliches Geld gebe. Der Arbeitssoziologe brachte deshalb eine Fortbildungsprämie ins Spiel.

Ein weiteres Problem sind die niedrigen Löhne. Viele verdienen so wenig, dass ihr Arbeitslosengeld I nach dem Jobverlust noch unter Hartz-IV-Niveau liegt. Eine Möglichkeit, den Betroffenen zu helfen, wäre, »die Lohnersatzrate wieder auf 67 Prozent anzuheben«, wie Peer Rosenthal von der Arbeitnehmerkammer Bremen vorschlug. Derzeit erhalten kinderlose Arbeitslose 60 Prozent des vorherigen Gehaltes. Nur Arbeitslose mit Kindern bekommen 67 Prozent.

Rosenthal erinnerte daran, dass sich mit der Hartz-IV-Reform auch die Prämissen geändert hätten. Sei das alte System des steuerfinanzierten Arbeitslosengeldes noch auf Statussicherung aus gewesen, gehe es heute nur noch um das Existenzminimum.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.