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Israel: Erste Risse
Lange ergötzte sich die israelische Gesellschaft an der eigenen militärischen Stärke. Jetzt – endlich – regt sich Protest gegen den Krieg
Die Tage vor dem Pessach-Fest in Israel sind voller Trubel – die letzten Einkäufe für den Seder-Abend werden erledigt, die Straßenmärkte und Shopping-Malls sind überfüllt. Wer in diesem außergewöhnlich kühlen April durch Tel Aviv läuft, spürt kaum, dass Israels Militäroffensive – ausgelöst durch den Hamas-Angriff am 7. Oktober – in mehreren Regionen mit unverminderter Härte weitergeht. Zwar sind überall Aufkleber mit Porträts gefallener Soldaten zu sehen, und im Straßenbild fehlen die sonst so zahlreichen Touristen. Doch für die Mehrheit der Israelis geht das Leben weiter. Trotz zahlreicher Einsätze hat das Militär seit Ende Januar kaum Verluste zu vermelden, und es sind nur die täglichen Proteste für die Geiseln in Gaza – geschätzt sind noch 24 von ihnen am Leben – die zum Ärger der Regierung landesweit daran erinnern, dass eines der erklärten Kriegsziele bisher nicht erreicht wurde.
Über das Schicksal der palästinensischen Zivilbevölkerung wird indessen geschwiegen. Außer auf den Seiten der auflagenschwachen Haaretz findet das Thema in den Medien kaum Beachtung. So kurz vor dem Fest der Befreiung, bei dem jüdische Familien gemeinsam über das Armutsbrot ihrer Vorfahren singen, laufen im Fernsehen keine Reportagen über die Hungersnot und wöchentlich Hunderte Tote im nur 70 Kilometer von Tel Aviv entfernten Gaza.
Auch die Militäreinsätze in den Flüchtlingscamps des Westjordanlands sowie die eskalierende Siedlergewalt finden kaum Erwähnung. Meldungen über Kriegsverbrechen dringen nur dann an die Öffentlichkeit, wenn sie als Gefahr für das internationale Ansehen Israels präsentiert werden – etwa im Fall des Sanitäter-Massakers oder des Angriffs auf die Filmemacher des oscar-prämierten »No Other Land«.
Meldungen über Kriegsverbrechen dringen nur an die Öffentlichkeit, wenn sie als Gefahr für das internationale Ansehen Israels gelten.
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Paradoxerweise sind es gerade die Medien der Rechten, wie Channel 14, die Aufnahmen der massiven Zerstörung in den palästinensischen Gebieten zeigen – dies aber als Beweis der militärischen Stärke feiern. Dort wird auch über die kommende Vertreibung der zwei Millionen Palästinenser aus Gaza fantasiert. In der Gratiszeitung »Israel Hayom« feierte Innenminister Moshe Arbel eine von der deutschen Botschaft koordinierte Evakuierungsaktion einiger Deutschpalästinenser als erster Schrit bei der »Verwirklichung des Trump-Plans, der (...) das Gebiet in ein Paradies verwandeln« würde. Die grausamsten Bilder kursieren indes in rechtsradikalen Telegram-Gruppen, die Zigtausende Mitglieder haben. Mit makabren Memes werden die Opfer, oft Kinder, dort folgenlos verhöhnt. Der Umgang der israelischen Gesellschaft mit dem Schrecken in Gaza reicht von bewusster Verdrängung über messianischen Tatendrang bis zu perverser Schadenfreude – und dies seit 18 Monaten.
Langsam jedoch zeigen sich Risse. In der meistgesehenen Nachrichten-Talk-Show wurde eine ehemalige Mossad-Agentin einen Tag vor Pessach unerwartet deutlich. »In Gaza passiert (aus militärischer Sicht) nichts. Es werden nur Häuser zerstört, um die Bevölkerung irgendwann nach Somaliland oder wer-weiß-wohin zu vertreiben. Wo ist die Hamas? Sobald wir bombardieren, verschwinden sie in Tunneln. Wen töten wir? Kinder, Frauen, Zivilisten.« Eine Schauspielerin, die in den letzten Jahren Karriere als zionistische Influencerin machte, sekundierte: »Das ist übrigens eine Katastrophe für Israel. All diese Bilder, die wir hier (im israelischen Fernsehen) nicht sehen – der Schaden für unseren Ruf ist enorm.« Der Moderator klang fast betroffen, als er hinzufügte: »Abgesehen vom Image – es ist auch sonst furchtbar für uns.«
Die späte Entdeckung eines moralischen Empfindens zeigt sich auch in den Erklärungen für einen Geisel-Deal. Den Anfang machte ein Schreiben von fast Tausend Soldaten aus der Luftwaffe, die erklärten, der Krieg diene längst nicht mehr seinen offiziellen Zielen. Zwar riefen sie nicht direkt zur Verweigerung auf, warnten aber, die Fortsetzung werde nicht nur Soldaten und Geiseln, sondern auch »unschuldigen Zivilisten« das Leben kosten – ein Begriff, der im israelischen Mainstream-Diskurs über Gaza bislang völlig fehlte. Inzwischen haben mehr als 140 000 Menschen derartige Appelle unterzeichnet. Zudem kursierten in den Tagen rund um den israelischen Holocaust-Gedenktag mehrere Beiträge – etwa die des Historikers Daniel Blatman, der feministischen Juristin Orit Kamir oder der weltberühmten Sängerin Noa –, die zum Widerstand gegen den Massenmord in Gaza aufriefen und dabei direkte Vergleiche zur Shoa zogen.
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Auch auf der Straße ändert sich allmählich etwas. Neben den Geiseldemos in Tel Aviv hat sich im letzten Monat ein kleiner Block gebildet, der stetig wächst. Waren es zunächst nur ein Dutzend Personen, so stehen inzwischen Hunderte Menschen auf der Straße, von denen jeder das Bild eines der über 18 000 in Gaza seit Kriegsbeginn getöteten Kinder hochhält. Die vom Rechtsradikalen Itamar Ben Gwir geleitete Polizei war von dieser Aktion so besorgt, dass sie das Zeigen von Kinderfotos sowie Schilder mit dem Begriff »Völkermord« auf einer Friedenskundgebung vergangene Woche verbot. Die jüdisch-arabische Friedensorganisation »Standing Together« hat darauf mit Plakaten genau dieser Kinderfotos auf Bushaltestellen geantwortet. Am Donnerstag schließlich beteiligten sich trotz Gewaltandrohungen der extremen Rechten in Tel Aviv um die 5000 Menschen an der bisher größten Anti-Kriegs-Demonstration. Es ist ein erstes Anzeichen für einen Meinungswandel in der israelischen Gesellschaft – nachdem die letzten Hoffnungen erloschen sind, die USA oder die EU könnten Israel zu einer Beendigung des Krieges bewegen.
Dieser Wandel wird aber nur etwas bewegen können, wenn der Protest, gemeinsam mit der Bewegung zur Freilassung der Geiseln, zum Widerstand wird – durch Streiks, Straßenblockaden oder Kriegsdienstverweigerung wie zuletzt bei der Massenbewegung gegen die Justizreform im Frühling 2023. Wie die israelische Regierung darauf reagieren würde, bleibt abzuwarten. Die Trump-Administration macht es vor: Demonstrativ rechtswidrige und brutale Repression ist derzeit das bevorzugte Mittel der internationalen Rechten, zu der sich Netanjahu stolz zählt.
Auch wenn es der internationalen Anti-Genozid-Bewegung schwerfallen dürfte, ein gutes Wort über das viel zu späte Erwachen des israelischen Friedenslagers zu verlieren, muss die Devise jetzt lauten: Solidarität mit allen, die sich der Logik des ewigen Krieges widersetzen – auch in Israel.
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