- Politik
- Palästina
»Auf einem Drittel des Gazastreifens zusammengepfercht«
Interview mit der Autorin Simin Jawabreh über die Lage in Gaza und die Repression gegen Palästinenser in Deutschland
Was berichten Ihnen Verwandte über die aktuelle Lage in Palästina?
Ich habe Kontakt zu Angehörigen in Israel und der Westbank, die von täglichen Razzien in den Camps vor allem um Hebron erzählen. Über Freunde habe ich außerdem Verbindungen zu einem ökosozialistischen Projekt der Palestinian People’s Party, der ehemaligen Kommunistischen Partei. Sie berichten, dass sie immer aggressiver von Siedler*innen bedroht werden. Seit 2023 wurden tausend Palästinenser*innen in der Westbank aus ihren Häusern vertrieben, in zwei Fällen wurden ganze Dörfer geräumt. Ben-Gvir, der Minister für innere Sicherheit, hat die Verteilung von Tausenden von Waffen an die Siedler*innen angekündigt. Das wird den Terror weiter befeuern.
Simin Jawabreh ist Politikwissenschaftlerin und Aktivistin in der migrantischen Linken. Seit Oktober 2023 engagiert sie sich in der Protestbewegung gegen den Gaza-Krieg und die deutschen Waffenlieferungen an Israel. Sie schreibt für diverse Zeitschriften, unter anderem das Magazin »Jacobin«.
Und wie ist die Lage in Gaza?
So schlimm wie noch nie seit Oktober 2023. Mitte März hat die israelische Armee eine völlige Blockade verhängt, allein im letzten Monat wurden eine halbe Million Menschen erneut vertrieben. Jetzt ist die Bevölkerung auf einem Drittel des Gazastreifens zusammengepfercht. Den Rest haben die Israelis zum Sperrgebiet erklärt, und es ist davon auszugehen, dass sie wie unlängst in Rafah auch diese Schutzzone am Ende zerstören werden. Bei der Rhetorik, die Gaza nur noch als Massengrab beschreibt, müssen wir allerdings auch aufpassen. Es ist noch nicht alles verloren. In Gaza leben noch Menschen, für die wir kämpfen müssen.
Israels Regierung hat bereits angekündigt, dass sie zwei Drittel des Gazastreifens behalten wird. Und die USA wollen 1,5 Millionen Menschen in Nachbarländer deportieren.
Das Ziel ist eine Massenvertreibung und eine Vernichtung des palästinensischen Volks. Meiner Meinung nach geht es inzwischen nicht mehr um die Frage, ob es ein oder zwei Nationalstaaten geben wird. Infrage steht immer mehr das Konzept des Nationalstaats selbst. Wir sehen, dass die Menschen auf die Nationalstaaten nicht zählen können – auf keinen in der Region. Das haben wir ähnlich ja schon im Sudan erlebt, wo die Revolution der Basiskomitees nicht nur von den Großmächten, sondern auch von den reaktionären Mächten der Region – von Saudi-Arabien bis zur Islamischen Republik Iran – zerstört wurde. Das müssen wir mitdenken, wenn es um die geplanten Deportationen geht. Die arabischen Staaten oder die Türkei mögen sich heute als Verbündete der Palästinenser*innen inszenieren, aber eigentlich wollen sie eine Normalisierung ihrer Beziehungen zu Israel. Die einzigen Verbündeten der Palästinenser*innen sind die Millionen Menschen, die weltweit auf der Straße sind und Druck auf ihre eigenen Regierungen ausüben. Darin liegt auch eine besondere Kraft der palästinensischen Diaspora.
Zuletzt gab es in Gaza Proteste gegen die Hamas. Wie bewerten Sie diese?
Mit der Berichterstattung tue ich mich schwer. Die Proteste waren klein, fanden aber viel Aufmerksamkeit, während über den Genozid kaum berichtet wird. Über die Hinrichtung von 15 Sanitätern durch israelische Besatzungstruppen schrieb beispielsweise die »Zeit« dieser Tage, es habe sich um eine »Kette von Fehlern« gehandelt. Die Sanitäter wurden hingerichtet – worin soll da der Fehler bestehen? Das Maximale, was von deutschen Medien zu erwarten ist, ist das Narrativ der »zwei Seiten«. Aber das ist falsch, denn die zugrunde liegende strukturelle Gewalt, unter der die Menschen in Gaza leiden, ist die Besatzung. Trotzdem finde ich die Proteste gegen die islamistische Führung natürlich wichtig und legitim. Wir sollten nicht vergessen, dass der Islamismus in der palästinensischen Bewegung nur deswegen so stark werden konnte, weil man mit dem Oslo-Abkommen die revolutionäre Linke systematisch zerschlagen hat. Damals ist eine symbiotische Beziehung zwischen der israelischen Rechten und Hamas entstanden. Die Hamas wurde unterstützt, um die Linke zu schwächen.
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
In deutschen Medien wird relativ viel darüber berichtet, dass die Trump-Regierung Menschen ohne Rechtsgrundlage deportiert. Weniger präsent ist, dass Deutschland unter Parteien der »Mitte« ganz ähnlich vorgeht.
Staatenlose Palästinenser*innen werden in den nächsten Monaten vor allem davon betroffen sein, dass sie nach einem neuen Urteil nach Griechenland abgeschoben werden können. Die Repression gegen Palästinenser*innen steht meiner Meinung nach aber in einem größeren Zusammenhang. Wir erleben schon lange einen Ausbau von Polizei und Militär. Mit Verweis auf Kriminalität und einen angeblich importierten Antisemitismus wird eine »moralische Panik« produziert – wie es der britische Marxist Stuart Hall ausgedrückt hat. Vorher hatten wir die »Freibad-Debatte« und die »Silvesterkrawalle«, jetzt richtet sich die Panik gegen Palästinenser*innen. Ich glaube, dahinter steckt eine größere autoritäre Transformation, die nicht nur vom Aufstieg der extremen Rechten, sondern vor allem von der Normalisierung der Repression getragen wird. Vor einigen Monaten wurde der Kita-Streik in Deutschland verboten. Auch das steht in diesem Zusammenhang.
Sie kommen gerade vom Prozess gegen Besetzer der Humboldt-Universität. Wie erleben Sie die Repressionswelle im Zusammenhang mit den Gaza-Protesten?
Der Prozess wurde zum dritten Mal verschoben, und das passiert im Augenblick sehr oft, wenn Verfahren eigentlich eingestellt werden müssten. Insgesamt gibt es über 400 offene Verfahren. Wir müssen davon ausgehen, dass uns die Prozesse noch Jahre begleiten werden. Besonders bedrohlich sind die Verfahren natürlich für Leute mit prekärem Aufenthaltsstatus. Außerdem beobachten wir, dass bei Aktivist*innen die Aufenthaltstitel noch mal überprüft werden. Ein falscher Like in sozialen Medien reicht mittlerweile, um die Ausweisung einer Person zu begründen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.