Leben im Niemandsland von Tschernobyl
Warum Tiere und Menschen 30 Jahre nach der Reaktorkatastrophe zurückkehren
Moskau. Schreckliche Mutanten sollen sich in Gewässern um das am 26. April vor 30 Jahren havarierte Atomkraftwerk Tschernobyl entwickelt haben. Eines dieser Monster habe einem Mann einen Arm abgebissen, heißt es. Ein Biologe und Hobbyangler wurde zum Monsterjäger. Er zog einen 50 Kilogramm schweren Wels an Land.
Der Forscher kam zu dem Schluss, dass es den Menschenfresser von Tschernobyl sehr wohl gab, dass es sich dabei aber nicht um einen radioaktiven Mutanten, sondern um einen normalen, aber eben riesigen Fisch handelte.
Auch zu Lande blüht in der offiziell unbewohnbaren, 2600 Quadratmeter großen 30-Kilometerzone um das Kraftwerk das Leben. Auf der weißrussischen Seite ist ein Naturschutzgebiet, das wie ein spontan entstandener Safari-Park wirkt, eingerichtet. Tiere, die keine Strahlungsangst kennen, haben sich in nie da gewesener Zahl vermehrt. Neben herkömmlichen Wildschweinen und Elchen haben bis zu 300 Wölfe und Dutzende von Luchsen die Zone zu ihrer neuen Heimat auserkoren.
Absolut seltene Sumpfschildkröten sonnen sich zwischen Waldbeeren. In unbenutzten Wasserziehbrunnen wimmelt es von Schlangen. Aus der polnisch-weißrussischen Bialowiezer Heide wanderten Wisente zu, deren Zahl längst 100 überschritten hat. Zwei wilde Przewalski-Pferde, die es in der freien Wildbahn längst nicht mehr gibt, wurden seinerzeit in einem Schutzgebiet auf der ukrainischen Seite angesiedelt. Heute zählt das wilde Gestüt in der 30-Kilometerzone gut 20 Tiere.
Forscher staunen, dass sich Tiere inmitten der Strahlung offenbar überaus wohl fühlen. Sich daran anpassen konnten sie nicht, denn ihre Körperzellen speichern Radioaktivität genauso, wie die des Menschen. Tiere leben nicht so lange wie der Mensch, sagt Professor Waleri Stepanenko. Vielleicht sterben sie eines natürlichen Todes, bevor die Strahlung sie umbringt. Deshalb bringen sie wohl auch gesunden Nachwuchs zur Welt.
Elche und Wildschweine werden schon mit zwei bis drei Jahren fortpflanzungsfähig. Einige befürchten, die verstrahlten Tiere könnten die Zone verlassen und die Radioaktivität durch ganz Europa tragen. So gut wie in Tschernobyl wird es ihnen aber nirgendwo sonst gehen. Man müsste sie schon mit Gewalt vertreiben.
Aber auch Menschen finden gelegentlich Zuflucht in der Zone. Vor dem Super-GAU zählte das Dorf Tuslitschi 1000 Einwohner. Diejenigen, die heute dort noch leben, ziehen sich vor herannahenden Fremden aus Vorsicht zurück. Iwan Schemenok bleibt auf der Bank an der Pforte sitzen. Er ist bereits 88 Jahre alt und hat nach eigenen Worten nichts zu verlieren. Im Mai 1986 wurde er wie alle anderen zwangsausgesiedelt, kehrte aber schon bald wieder zurück. Er und seine Frau leben von dem, was die eigene Wirtschaft hergibt. Der Hausbrand aus radioaktiven Kartoffeln hilft gegen alle Gebrechen. Davon ist Opa Iwan überzeugt. Die Behörden drücken bei ihm und den wenigen anderen sogenannten Selbstsiedlern ein Auge zu. Sie schicken sogar zweimal die Woche eine »Awtolawka«, einen Autoladen, hin, wo man Unverstrahltes kaufen kann.
Auch in der Ukraine hat man 130 Passierscheine zum Betreten der Zone an eigenwillige Tschernobylpartisanen verteilt. Wie viele dort wirklich leben, weiß niemand genau. 1988 gab es noch 1280 Rückkehrer. Heute sind es viel, viel weniger. Eine besondere Spezies sind Ausgestoßene jeder Art, die im Konflikt mit der Gesellschaft oder dem Gesetz leben. Wenn sie nur aus dem Knast durchgebrannt und keine Raubmörder sind, lässt man sie in der Regel ungeschoren.
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