Den »dritten Pol« wieder sichtbar machen

Mario Candeias über mögliche Strategien gegen den autoritär regierenden Machtblock und einen sich radikalisierenden Rechtspopulismus

  • Lesedauer: 8 Min.

Europa ist trotz gegenteiliger Entwicklungen Hoffnung auf Schutz vor Krieg und Verfolgung. Jeden Tag halten jene, die unsere militarisierten Grenzen überschreiten, die Frage einer anderen Zukunft Europas offen. Europa sind auch all jene Millionen von Menschen, die die Geflüchteten willkommen heißen. Sie erheben damit einen Anspruch auf eine solidarische und demokratische Lebensweise – ein politisches Statement gegen eine individualisierte Konkurrenzgesellschaft und Postdemokratie. Europa sind all jene, die sich gegen ein alternativlos und autoritär zugerichtetes Austeritätsregime wenden, für Wohnraum, Gesundheit und Bildung für alle streiten, sich engagieren, für ein gutes Leben für alle. Dieses Europa ist in der Polarisierung zwischen dem autoritär regierenden Machtblock und einem sich radikalisierenden Rechtspopulismus aus dem Blick geraten. Diesen »dritten Pol« (siehe Tom Strohschneider hier) gilt es wieder sichtbarer zu machen. Das gilt natürlich auch und gerade für die Bundesrepublik.

Nur wie machen wir das? Weder gelingt es, diesen Pol derzeit zu mobilisieren, noch Teile der verunsicherten Bevölkerung, die sich nach rechts wenden, von anderen Positionen zu überzeugen. Damit ist natürlich nicht der harte Kern von überzeugten Rassisten und Chauvinisten gemeint.
Die antifaschistische Praxis, die Politik und Ideologie der Rechten zu skandalisieren, ihre Positionen aufzudecken und überzeugende Gegenargumente deutlich zu machen, ist notwendig. Dazu gehört auch die Verurteilung von Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus. Handreichungen und politische Bildung für eine sicherere Argumentation sind dafür notwendig, gerade für die vielen – auch in unseren Reihen –, die sich in der Argumentation unsicher fühlen, selbst das ein oder andere der Positionen gar nicht so falsch finden.

Zur Person

Mario Candeias, Jahrgang 1969, ist Politikwissenschaftler und seit 2013 Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa- Luxemburg-Stiftung. Er arbeitet als Redakteur bei der Zeitschrift »LuXemburg« und von »Das Argument«, zudem arbeitet er am Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus mit.

Zuletzt erschien von ihm gemeinsam mit Eva Völpel: »Plätze sichern! ReOrganisierung der Linken in der Krise. Zur Lernfähigkeit des Mosaiks in den USA, Spanien und Griechenland« im VSA Verlag Hamburg.

Bleibt es dabei, unterliegt man jedoch schnell einem »aufklärerischen Irrtum« – eine simple pädagogische Haltung wird von vielen, die wir gar nicht erreichen, und zwar nicht nur ganz rechts, aktiv zurückgewiesen. Auch gelingt es damit in den seltensten Fällen, den Einfluss der Rechten zurückzudrängen.

Zu den klassischen Strategien gehört auch die gesellschaftliche Ächtung, der unmittelbare Protest bis hin zur zivilgesellschaftlichen Konfrontation, wie etwa in Köln erfolgreich gegen PRO-Köln, oder eben gegen diverse Pegida-Ableger, die in den Medien immer schon weniger Aufmerksamkeit erzielten. Was bei spektakulären Blockaden gegen Nazis wie in Dresden funktioniert und breite Bündnisse der Zivilgesellschaft (auch gegen die Repression staatlicher Apparate) ermöglichte, ist jedoch gegen modernisierte rechte Massenparteien nur begrenzt hilfreich. »Hauptsächlich auf Protest orientiertes Herangehen entspricht nur partiell den Erfordernissen einer Gegenoffensive.«

Dies ginge auch an den kompliziert mit rassistischen Versatzstücken und Chauvinismus verwobenen berechtigten Problemen der bedrohten Mitte und der Prekären vorbei, die ohne die Existenz realer Alternativen von den Rechten aufgegriffen werden. Da bedeutet im Umkehrschluss nicht, an allen Interessen von links anzuschließen: Gegen gruppenbezogene Abwertungsdiskurse und anti-emanzipatorische, Herrschaft reproduzierende Positionen muss eine deutliche Grenze gezogen werden.

Aber eine Fokussierung auf die AfD würde zu kurz springen, aus zwei Gründen. Erstens: Bündnisse gegen die Rechte sind sinnvoll mit Blick auf die demokratischen Kräfte selbst, die sich damit bestärken, zeigen, wir sind viele, aber sie bestärken auch das Bild einer »demokratischen Einheitsfront« der etablierten Parteien, zu denen eben auch die Linkspartei längst dazugerechnet wird. Zweitens: Sie lassen außer Acht, dass die Regierung selbst – getrieben oder gewollt – autoritäre und inakzeptable Maßnahmen ergreift: von der Aufrechterhaltung der Schuldenbremse, über die Aushöhlung des Asylrechts durch die zwei Gesetze in kurzer Frist, nebenbei mal die Vorratsdatenspeicherung einführen, dreckige Deals mit anti-demokratischen Regimen von der Türkei über Eritrea bis Sudan, um Flüchtende abzuwehren. Eine Bundesregierung, die Fluchtursachen nicht bekämpft, sondern, so der Titel einer aktuellen Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung, eher »Exportweltmeister in Fluchtursachen« ist.

Dagegen setzen wir meist das politisch Richtige, durchaus Verbindende mit einem starken Fokus auf soziale Infrastrukturen, vernünftige kommunale Ausstattung, Wohnen für alle, Konzepte für Willkommensstädte etc. Das sollten wir tatsächlich ausbauen, also unsere Kritik und Handreichungen zur Auseinandersetzung mit AfD, Pegida, aber auch Bundesregierung verbinden mit Konzepten zur Stärkung sozialer Infrastrukturen für alle, von Willkomensstädten über eine Pflegeinfrastruktur und »bezahlbares Wohnen bis zu öffentlichen digitalen Infrastrukturen in Smart Cities.«

Eine soziale Infrastruktur für alle gibt es natürlich nicht ohne ein Ende von Schuldenbremse und mehr Umverteilung, ohne Beteiligung der Reichen und Vermögenden an der Finanzierung des Gemeinwohls, zur Finanzierung des Öffentlichen etc. Hier müssten wir schauen, ob nicht neue Chancen für ein Umverteilungsbündnis mit Gewerkschaften, Attac etc. zu nutzen sind – auch wenn entsprechende Kampagnen in der Vergangenheit nicht die gewünschte Kraft entwickeln konnten. Es ist jetzt eine andere Situation, ein anderer Druck und zugleich gibt es Haushaltsüberschüsse.

Doch auch wenn große Teile der Bevölkerung häufig die Positionen der Linken teilen, auch viele der weitergehenden Forderungen (Umfragen bestätigen dies), bringt die richtige Forderung oder das richtige Argument noch keine automatische Perspektive der Durchsetzung. Unsere Debatten sind oft doppelt verstopft: a) analytisch, weil es immer noch einer tiefergehenden Analyse bedarf; und b) sind unsere Debatten teilweise auch programmatisch verstopft: man kann immer noch bessere programmatische Positionen erarbeiten, aber damit ist noch niemand überzeugt. Beides, Analyse und Programmatik, bleibt wichtig, ist aber nicht hinreichend.

Selbst wenn es gelingt, einzelne, gezielte populare Forderungen und kluge Konzepte medial besser zu vermitteln: auch die bessere Anrufung, das bessere Konzept verpufft ohne eine populare Praxis nach kurzer Zeit.

Ergänzend müssen wir stärker organisierende Formate entwickeln, wie wir sie in Ansätzen haben: Es genügt auch nicht, das Superkonzept oder die verbindende Strategie für den »dritten Pol« zu formulieren. Wenn sie nicht gemeinsam formuliert wird, bleibt sie wirkungslos. Das Mosaik muss also aktiv zusammengebracht werden, immer wieder, es muss produziert werden, ja organisiert werden, um neben einem besseren Verständnis für Differenzen das Gemeinsame hervorzubringen. Das tun wir noch zu wenig. Wir betonen lieber die Differenzen zwischen uns oder auch zu potenziellen Bündnispartnern – manchmal in dem Glauben eine schöne Polemik oder eine deutlich geführte Kontroverse führt dann schon zu Klärung. Dem ist nicht so. Das Talkshow-Format funktioniert nicht für verbindende Politiken.

Wenn ich die Interessen potenzieller Bündnispartner nicht bei der Formulierung meiner eigenen Interessen berücksichtige, kommt man nicht zu einem neuen Gemeinsamen. Das heißt keineswegs Anpassung oder Abschleifen von eigenen Positionen, als vielmehr Perspektivverschiebungen vorzunehmen: wenn wir uns nun mal nicht einigen werden, ob wir für oder gegen den Euro sind, für oder gegen die EU, dann sollten wir doch besser die Frage stellen, wie wir gemeinsam die Kräfteverhältnisse verschieben können, damit überhaupt die ein oder andere unserer Postionen wirklich durchsetzbar wird – um nur mal ein Beispiel zu nennen.

Doch auch eine Verbindung der aktiven Teile der Bevölkerung und allerlei linker Organisationen und Bewegungen reicht nicht aus. Während die bedrohte Mitte noch Teilhabe und Beteiligung einklagt, führt die Aushöhlung der sozialen Demokratie zur klassenspezifischen Entmutigung des sogenannten abgehängten Prekariats – eine Teilnahme an demokratischer Willensbildung erscheint angesichts mangelnder Einflussmöglichkeiten als wenig erfolgversprechend. Hier gilt es über das Mosaik und seine eigene Klassenspezifik hinaus zu gehen. Wie erreichen wir jene, die von Politik nichts mehr erwarten und auch keine schlauen Transformationstexte oder Aufklärungsbroschüren lesen?

Um Leute nachhaltig zu erreichen, gilt es noch einen Schritt weiter zu gehen und Ansätze eines Transformative Organizing experimentell zu entwickeln und solches Wissen systematisch aufzubereiten. Also dort hingehen wo die Abgeschriebenen sind, eine aufsuchende Praxis, die in sogenannten sozialen Brennpunkten beginnen könnte – in der Perspektive aus diesen Erfahrungen heraus systematisch verallgemeinerbare Methoden und Projekte zu entwickeln. In diesem Zusammenhang wird wieder verstärkt von der »Kümmererpartei 2.0« gesprochen, einer Partei, die wieder präsenter im Alltag vor Ort wird.

Das Problem: Solche Projekte wirken, wenn sie erfolgreich sind, mittel- bis langfristig. Kurzfristig müsste das kombiniert werden mit Aktionen, die das öffentliche Interesse wecken: das kann die Ankündigung und Inszenierung von Pilotprojekten in sozialen Brennpunkten sein, die Gründung einer politischen Plattform der Willkommensinitiativen oder besser noch kommunaler Plattformen, die Willkommensinitiativen und stadtpolitische Initiativen von Wohnen, über Energie bis Wasser etc. zusammenbringen (ein bisschen dem Beispiel der verbindenden kommunalen Plattformen in Spanien folgend), die Politik in der Kommune anders erfahrbar machen, als es mit dem angestaubten Begriff Kommunalpolitik – teilweise zu Unrecht – verbunden wird. Das Mittel der Volksbegehren ist zwar ein »Mittelklasse«-Phänomen, aber es erzielt sofort große Aufmerksamkeit – könnte man vielleicht auch für das konkrete Problem im Umgang mit Geflüchteten und sozialen Infrastrukturen für alle einsetzen.
Sichtbarkeit ohne Erfahrbarkeit und umgekehrt funktioniert eben nur sehr begrenzt. Das wäre allerdings auch eine kleine Kulturrevolution in der Linken, die aber in den letzten Jahren durchaus auf dem Weg ist.
Generell müssen wir offen bleiben für rasche gesellschaftliche Verschiebungen. Die europäische Krise ist keineswegs gelöst. Immer wieder ereignen sich dramatische Wendepunkte: der Coup gegen die griechische Regierung im Sommer, die Reaktion gegen den Sommer der Migration und die Etablierung einer mindestens rechtspopulistischen Partei in der Bundesrepublik etc. Immer wieder kommt es aber auch zu überraschenden positiven Entwicklungen: von der sozialdemokratischen Brise in Großbritannien und den USA, über die Anti-Austeritätsregierung in Portugal, die Willkommensinitiativen oder die neuen Empörten in Frankreich. Der »dritte Pol« bleibt aktiv.

Es gibt nichts schönzureden. Aber die Lage bleibt offen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Situation der Geflüchteten in Griechenland wie der Umgang der türkischen Regierung mit Flüchtenden sind unhaltbar. Auch wenn die antihumanitäre Schließung der Balkanroute die Lage der deutschen Regierung im Innern vorübergehend entspannt, kann der Deal mit der Türkei noch Sprengkraft entfalten. Auch die Debatte um den Brexit kann die massiven Desintegrationstendenzen in der EU weiter befördern. Und im Juni stehen wieder Neuwahlen im spanischen Staat an. Unsere Strategiebildung muss entsprechend reaktionsfähig sein und zugleich eine eigene Agenda entwickeln können.

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