Die digitale Neuvermessung der Welt
Nepal gilt als Paradebeispiel für den Einsatz des freien Kartenprojektes OpenStreetMap
Als Nama Budhathoki 2011 nach seinem Studium in den USA in sein Heimatland Nepal zurückkehrte, hatte er sich nicht weniger vorgenommen, als das Land der schneebedeckten Gipfel völlig neu zu kartieren. Seinen Plan wollte er mit Hilfe des Internetprojektes OpenStreetMap (OSM) umsetzen. OSM zeichnet sich besonders dadurch aus, dass es auf die Mitarbeit von Freiwilligen, auf sogenannte »Mapper-Communities« baut und kaum finanzielle Mittel voraussetzt. Nepal ist eines der ärmsten Länder der Welt, das meiste Kartenmaterial stammte noch aus den 80er Jahren. So schien OSM dem Stadtplaner Nama Budhathoki ein perfektes Instrument. Er stand allerdings vor dem Problem, dass 2011 die Mapperszene in Nepal nur aus einer Hand voll Leuten bestand.
Sie hatten gerade erst ein paar Wege und Straßen der Hauptstadt in die freie Datenbank von OSM eingetragen. Darum gründete Nama Budhathoki 2013 den Verein Kathmandu Living Labs (KLL). Zu diesem Zeitpunkt hatten Seismologen bereits vor einem starken Erdbeben in Nepal gewarnt. Budhathoki erinnert sich: »Wir wussten, ein Erdbeben wird kommen. Wir wussten, dass Karten für Rettungsarbeiten wichtig sind, also machten wir uns an die Arbeit.«
Er und die Mitstreiter vom Verein KLL eröffneten ein kleines Büro in der Hauptstadt und organisierten von dort aus zahlreiche Workshops, sogenannte »Mappingpartys«. Sie brachten Leuten bei, wie man aus Satellitenbildern gute Landkarten herstellt. Es kamen meist junge Leute, manche, weil sie Spaß an Technik haben, andere, weil ihnen die Erdbebengefahr bewusst war. Oder beides. Die KLL Mitarbeiter gaben Seminare an den Universitäten und brachten sogar Schulkindern das Kartieren mit OSM bei.
Die befürchtete Katastrophe kommt. Im April und Mai 2015 sterben 8800 Menschen bei mehreren Erdbeben, Budhathokis Wohnhaus bleibt zum Glück unversehrt, doch das KLL-Büro wird schwer beschädigt. Die nepalesische Polizei und das Militär beginnen die Suche nach Verletzten. Internationale Katastrophenrettungsteams erreichen das Land, das rote Kreuz belädt Versorgungstrucks, Kriseneinsatzkräfte des kanadischen Militärs bringen Bagger, Bulldozer und große Drucker zum Ausdrucken der OSM-Karten mit. Denn sie alle brauchen gutes Kartenmaterial, um ihre Arbeiten effektiv auszuführen.
Budhathoki erlebt diese Zeit im Arbeitsrausch. Die OpenStreetMapper vom Kathmandu Living Lab arbeiten vom Hof ihres zerstörten Büros aus weiter, um ihnen dieses benötigte aktuelle Kartenmaterial zu liefern. Wie überall herrscht auch bei KLL großes Gewusel. Die Mapper laden sich aktuelle Satellitenbilder des verwüsteten Landes auf ihre Computer und zeichnen Karten. Währenddessen kommt es immer wieder zu Nachbeben. 18 Stunden nach dem größten Beben stellt KLL die Plattform »Quakemap« ins Internet. Hier sammeln sie Hilferufe aus dem ganzen Land und koordinieren die Rettungseinsätze. Internationale Helfer gehen bei ihnen jetzt ein und aus. Einige Tage nach dem großen Beben zieht das KLL-Team in ein verlassenes Restaurant, dann in eine Schule um. Strom kommt von kleinen mobilen Solaranlagen.
Schon eine Stunde nach dem großen Erdbeben vom 25. April läuft die erste Meldung über die E-Mail-Liste der internationalen OSM-Gemeinschaft: »Die Nachrichten sind noch ein bisschen unklar, aber Kathmandu scheint schwer betroffen zu sein.« Umgehend schalteten sich die Freiwilligen in die Arbeit von KLL mit ein. Überall auf der Welt saßen nun Mapper an ihren Computern und zeichneten von aktuellen Satellitenbildern ab, was sie dort ausfindig machen konnten: passierbare und unpassierbare Straßen, eingestürzte Brücken, kaputte Häuser oder Flächen, auf denen Hubschrauber landen könnten. Sie suchten auch nach Schleichwegen, die die Rettungshelfer unverzüglich zu zerstörten Bergdörfern bringen könnten und zeichneten diese in die Karten ein. Kurz nach der Katastrophe fehlte in vielen Orten Trinkwasser, weil durch Erdrutsche Quellen zerstört oder unzugänglich geworden waren.
Fast 9000 ehrenamtliche Mapper trugen zum Nepal-Projekt kurz nach den Erdbeben bei. Ihre Hilfe koordinierten sie über das HOT Netzwerk, das Humanitäre OpenStreetMap Team. Dieses hatte sich nach den Erfahrungen des verheerenden Erdbebens in Haiti 2010 gegründet. Damals hatten erstmalig OSM-Mitglieder aus aller Welt geholfen, das haitianische Krisengebiet zu erfassen. Sie wurden damals noch stark durch organisatorische oder technische Probleme behindert. Deswegen entwickelte HOT in der Folgezeit Instrumente, die es nun Tausenden »Schreibtischmappern« ermöglichen, gleichzeitig an einem Projekt zu arbeiten. Diese verbesserten Werkzeuge kamen dann später in Nepal zur Anwendung. Sie dienen auch der Qualitätskontrolle, denn nicht alle freiwilligen Mapper können gleich richtig gut kartieren.
So gehen heute erfahrene Mapper alle Daten noch einmal durch, bevor sie einen bearbeiteten Abschnitt »auf grün stellen«. Sie können so Fehler beheben, wie der, an den sich der OSM-Experte Marek Kleciak erinnert. »In ganz Nepal gibt es keine einzige Autobahn. Doch irgendwo auf einer Bergspitze war da plötzlich eine auf der Karte. Jemand hatte einen Feldweg als Autobahn markiert.«
Die OpenStreetMap-Aktivisten beteiligen sich aber nicht nur vom heimischen Schreibtisch aus. Die Heidelberger Geografiestudentinnen Melanie Eckle und Carolin Klonner veranstalteten an ihrer Uni Mapperpartys für Nepal. Eckle kannte sich in dem Land aus, sie hatte zuvor ein Praktikum bei KLL absolviert. Gerade sind die beiden Studentinnen und ihre Gruppe Disastermappers wieder im OSM-Einsatz. Denn nach dem aktuellen Erdbeben in Ecuador brauchen die Hilfskräfte auch dort dringend Kartenmaterial. Darum luden Eckle und Klonner ihre Mitstudierenden letzte Woche zum »Mapathon« für das südamerikanische Land ein. »Jeder kann kommen!
Neue Leute können erste Erfahrungen im Mappen sammeln und von erfahrenen Mitgliedern lernen«, erklärt Melanie Eckle. Auch die Aktivisten vom Kathmandu Living Labs unterstützen tatkräftig die Arbeiten in Ecuador, wo die lokale OSM-Community noch nicht gut aufgestellt ist.
Doch auch in Nepal ist das große Ziel noch lange nicht erreicht, deshalb wendet sich Nama Budhathoki an die Mapperwelt: »Hier gibt’s immer noch viel zu tun, wir freuen uns über jeden, der uns beim Kartieren unterstützt!«
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