Für den Aufstand des Menschen im Menschen

Warum die Linkspartei eine offensive Transformationslinke werden muss: Ein Beitrag zur Debatte um eine Linkswende gegen den Rechtsruck von Dieter Klein

  • Dieter Klein
  • Lesedauer: 9 Min.

Katja Kipping und Bernd Riexinger haben an der Schwelle einer Scheidewegsituation zwischen bedrohlicher Rechtsentwicklung auf neoliberalen Grundlagen und dem Aufbruch für ein »gesellschaftliches Lager der Solidarität« eine starke Aussage getroffen. Sie sehen die Strategien der Linken auf dem Prüfstand und schlagen der Partei DIE LINKE eine strategische Offensive vor, eine »Revolution für soziale Demokratie und Gerechtigkeit!« Die Partei habe das Steuer herumzureißen und sich von einer Kraft, die im linken Parteienspektrum SPD und Teile der Grünen zu positiven Reformen zu treiben versucht, zu einer Offensivlinken zu entwickeln, die »Revolution« auf ihre Fahnen schreibt. Wo durch die Drift von SPD und Grünen an die Seite der CDU kein linkes Lager mehr ist, muss in der ganzen Gesellschaft »das Gemeinsame zwischen einem jungen urbanen linken Milieu, Erwerbslosen, prekär Beschäftigten und den Millionen Beschäftigten, die sich um ihre Rente im Alter sorgen und die sich ein Leben ohne Dauerstress und Existenzangst wünschen«, gefunden und für eine »Revolution der Gerechtigkeit«, für eine solidarische Gesellschaft mobilisiert werden.

Die Gesellschaft ist in Bewegung geraten. Die Unzufriedenheit großer Teile der Bevölkerung führt zu Stimmeneinbußen für CDU und SPD. Die AfD verdankt ihren Aufstieg nicht zuletzt einer Proteststimmung und tiefer Verunsicherung in der Wählerschaft. In der ganzen Europäischen Union haben Rechtspopulismus und Rechtsextremismus Aufwind. In Südeuropa allerdings haben SYRIZA und Podemos bewiesen, dass auch eine Wende in der Stimmungslage nach links möglich ist. Dass SYRIZA schließlich eine Niederlage erlitt, macht nur deutlich, wie dringlich auch in anderen Ländern eine linke Offensive ist, die eine machtvolle internationale Solidarität mit künftigen linken Vorstößen einschließt. Linksentwicklungen bedürfen der Verankerung im vielfältigen progressiven Unten der Gesellschaft. Aber sie erfordern eben auch offensive parteiförmige Weichenstellungen in Entscheidungssituationen. Darauf zielt das Strategiepapier der beiden Parteivorsitzenden.

Revolution meint dort nicht einen Aufruf zum großen Akt des Umsturzes aller gesellschaftlichen Verhältnisse. Doch Im Verhältnis zu extremer Reichtumskonzentration bei wenigen Superreichen und zu wachsender Armut, im Verhältnis zur Aushöhlung der Demokratie durch die Übermacht der großen Finanzakteure und multinationale Konzerne, zur akuten Gefahr des Rechtspopulismus und Rechtsextremismus und zur Verzweiflung der Menschen in von Krieg, Terror und Hunger geschlagenen Ländern gewinnen die Projekte der LINKEN tatsächlich revolutionäre Qualität: Gerechtigkeit, soziale Sicherheit für alle, öffentliche Daseinsvorsorge, armutssichere Renten, sozial gleicher Zugang zu Bildung und Gesundheitsleistungen, gut bezahlte Arbeit, Teilhabe an Entscheidungsprozessen und mit erstrangigem Gewicht ein sozial-ökologischer Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft und Frieden durch kooperative Sicherheit.

»An sich« zielen diese Forderungen, für die DIE LINKE in der Funktion einer verbindenden Partei, die die demokratischen Kräfte der Gesellschaft mobilisieren will, auf nichts anderes als auf die Verwirklichung der Menschenrechte für jede und jeden, auf die bereits in der bürgerlichen französischen Revolution proklamierten Werte Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Aber so, wie der neoliberale, finanzmarktgetriebene Kapitalismus inzwischen beschaffen ist und diese Werte in eine vielfach ausgezehrte Hülle verwandelt hat, wäre die Verwirklichung des Kurses auf »Verteilung des Reichtums als Knackpunkt« für ein demokratisches, sozial gerechtes und friedliches Europa von unten eben doch ein Einschnitt von revolutionärer Qualität. DIE LINKE erneuert damit ihre Distanz zu einem Reformismus, der nur den neoliberalen Kapitalismus flexibler macht, der von der SPD selbstruinös praktiziert wird und sie ins politische Aus führt. Dieses Verständnis von Revolution als Verknüpfung vieler realisierbarer Projekte und Initiativen durch die gemeinsame »Affinität zum Stern, der sich noch unter dem Horizont befindet« (Ernst Bloch) ist gewappnet gegen die Gefahr eines sektiererischen Revolutionarismus.

Also: Mit einer Beschränkung auf Reformen sozialdemokratischen Typs wird angesichts finanzkapitalistischer Macht und rechter Hetze nichts zu gewinnen sein. Doch Revolution als radikaler Akt der Umwälzung aller hierarchischen Verhältnisse steht auch nicht auf der Agenda. Wohl aber die Arbeit für einen radikalen Richtungswechsel der Politik, für die Verknüpfung der Stärken von Reform und Revolution und für die Überwindung ihrer spezifischen Schwächen und Grenzen. Darin besteht eine dritte Weise gesellschaftlichen Wandels, die Transformation. Was Kipping und Riexingert Revolution nennen, um Klarheit über die Tiefe bevorstehender Veränderungen zu schaffen, um zu einem neuen Aufbruch der Linken zu mobilisieren, um an einem Wendepunkt der Politik einen erkennbar linken Handschuh in die Arena der hegemonialen Kämpfe zu werfen, ist im theoretischen Diskurs als Transformation zu kennzeichnen. Sie umfasst einen Prozess vieler machbarer Teilreformen, die durch die Vernetzung ihrer Akteure, durch ihren gemeinsamen Bezug auf die gerechte Umverteilung des Reichtums, durch die Verbindung des Kampfes für soziale Gerechtigkeit mit dem Einsatz gegen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus zu einer anderen Richtung gesellschaftlicher Entwicklung bis zu Brüchen von revolutionärer Tiefe führen können: zu einer postneoliberalen Gesellschaftstransformation.

Eine Stärke des neuen Strategiepapiers besteht in der Orientierung der Linkspartei auf die Verbindung vieler linker Reformprojekte mit einem so radikalen Wechsel in der Richtung gesellschaftlicher Entwicklung, dass die Verwirklichung dieses Konzepts zur Ablösung des neoliberalen Kapitalismus durch eine demokratischerer und sozialere Gestalt unserer Gesellschaft führen würde. Die potentiell sozialistischen Elemente, Initiativen und Praxen in der Gesellschaft würden gestärkt werden, und die plurale Linke würde sie für den Einstieg in eine Verschränkung der systeminternen postneoliberalen Transformation mit einer systemüberschreitenden Großen Transformation, für eine doppelte Transformation, ausschöpfen.

Das vorgelegte Strategiepapier wird gewiss um die ökologische und die Friedensdimension zu erweitern sein. Die wachsende Zuwendung junger Menschen zu alternativen Bewegungen und auch zur LINKEN wird stark aus umwelt- und friedenspolitischem Engagement gespeist. Klimawandel, Zerstörung der Artenvielfalt und der Qualität der Böden rund um die Erde und andere Erscheinungen der Umweltkrise bedrohen die Lebensgrundlagen von Hunderten Millionen Menschen. Sie fordern eine nie gekannte Dimension internationaler Solidarität mit den am meisten von Umweltdesastern betroffenen und am wenigsten daran schuldigen Ländern heraus. Die Entscheidung zwischen einem Festhalten an der fossilistischen Basis eines zerstörerischen Wachstums sowie an der Einverleibung erneuerbarer Energien in das Machtgefüge der großen Energiekonzerne und einer Revolution in den gesellschaftlichen Naturverhältnissen durch gesteigerte Energieeffizienz und den Übergang zu erneuerbaren Energieträgern samt ihrer Chancen für Dezentralisierung, Kommunalisierung und Demokratisierung des Energiesektors wird zu einer Entscheidung über die Zukunft der menschlichen Zivilisation. Ähnliches gilt für die Entscheidung zwischen erneuter gefährlicher Hinwendung zu militärischer Gewalt und kooperativer Sicherheitspolitik.

Die »Revolution für soziale Gerechtigkeit, Demokratie, sozial-ökologischen Umbau und kooperative Friedenspolitik« wird angesichts der Machtfülle des globalisierten Großkapitals und der gegenwärtigen Schwäche der Linken und der demokratischen Zivilgesellschaft sicher ein längerer Prozess sein. Das wirft weitere Probleme auf, die nicht in einem einzigen Strategiepapier behandelt werden können. Eine der für eine linke radikale Realpolitik wichtigen Fragen lautet: Wird die Linke dauerhaft mit der geschlossenen Phalanx des herrschenden Machtblocks auf neoliberalem Kurs konfrontiert sein? Oder werden flexible Fraktionen der Machteliten unter wachsendem Krisen- und Problemdruck womöglich die Flucht nach vorn antreten und auf Machterhalt mittels sozialer Reformen, ökologischer Orientierung und gemäßigter Sicherheitspolitik setzen? Die zweite Entscheidung wäre mit günstigen Handlungsbedingungen alternativer Akteure für eine Revolution sozialer Gerechtigkeit verbunden. Die gegenwärtig dominierenden neoliberal geprägten Entwicklungstendenzen sprechen gegen solche Erwartung. Aber für Divergenzen in herrschenden Block und damit verbundene Chancen einer progressiven Transformation sprechen gleichfalls starke Faktoren:

Erstens: Als Folge skandalöser Vertiefung der sozialen Ungleichheit wird der Kapitalismus erneut in tiefe Wirtschafts- und Systemkrisen geraten. Teile des Establishments werden dann noch stärker auf autoritäre Herrschaftsformen und Austerität setzen. Aber wenn die Linke ihre Segmentierungen überbrückt, wenn sie an Stärke und Druckpotenzial gewinnt, könnte ihr Drängen die Neigung eines anderen Teils des Machtblocks stärken, sich auf höhere Löhne, Sozialtransfers und umweltorientierte Investitionen einzulassen, um durch gestärkte Nachfrage der Krise zu entkommen - ähnlich den Zeiten des New Deal, skandinavischer Wohlfahrtsstaatlichkeit und des sozialstaatlich regulierten Kapitalismus in der OECD-Welt der Jahrzehnte nach dem zweiten Weltkrieg.

Zweitens: Differenzierungen in den Machteliten brechen dann auf, wenn die ganze menschliche Zivilisation in Gefahr ist und damit auch Grundlagen des Kapitalismus und die Lebensweisen der Herrschenden selbst bedroht sind. Genau solche Situation zieht herauf. Die Gefahr eines Atomkrieges ist weiter auch für die Herrschenden bedrohlich. Kriege erhöhen die Zahl zerfallener Staaten, die der Kontrolle durch die kapitalistische Machtzentren entgleiten und internationalen Terrorismus hervortreiben. Die ökologische Krise ist auch für die Machteliten zur Gefahr ersten Ranges geworden. Die andauernde Armut bedroht als Nährboden für Gewalt, für eine das System destabilisierende rechtspopulistische und rechtsextreme Politik und für Terrorismus, als Ursache für Armutsmigration und als Grund für rebellische Forderungen nach Gerechtigkeit und Demokratie auch die Herrschenden.

Eine Offensive der Linken könnte den Machteliten den Weg autoritärer Herrschaft und Autorität versperren, ihre flexiblen Fraktionen zu einer Öffnung für gemäßigte Reformen des Kapitalismus drängen und die Resonanzräume für kapitalismuskritische und antikapitalistische Politik weit stärker erweitern als gegenwärtig absehbar.

In der »Flüchtlingsfrage« beispielsweise schien mit dem ursprünglichen Merkelschen Ansatz einer Willkommenskultur auf dem internationalen Problemfeld Migration zaghaft die Öffnung für humanitäre Vorzeichen von Lösungen auf. Das entsprach handfesten Interessen in den Machteliten daran, ein zukunftsentscheidendes Feld nicht dem Machtgewinn rechtspopulistischer und rechtsextremer Kräfte und ihrer destabilisierende Politik zu überlassen, den europäischen Zusammenhalt gegen aufbrandenden Nationalismus zu bewahren und wirtschaftliche Verluste durch neuerliche Grenzziehungen in Europa abzuwenden. Aber die Zivilgesellschaft samt der Linken war zu schwach, um zu verhindern, dass sich die konservativen Kräfte innerhalb des herrschenden Machtblocks gegen solche Interessen durchsetzen. Das muss jedoch nicht so bleiben. DIE LINKE könnte künftig ihr konsequentes Nein zur herrschenden Politik noch erfolgreicher durchsetzen, wenn sie es mit einem Ja zu den gesellschaftlichen Potenzen positiven Wandels bis in die Zirkel der Macht hinein verbindet.

Vier Wege öffnen sich für eine Erneuerung der LINKEN als offensive Transformationslinke:

Erstens: Größte Präsenz in den Projekten und Initiativen, in denen Menschen sich selbst zur Verbesserung ihres eigenen Lebens in Solidarität mit anderen ermächtigen. Organisierendes Wirken linker Aktivisten für weitere solche Prozesse von unten.

Zweitens: Arbeit an einem einenden Band zwischen den vielen einzelnen Ansätzen progressiver Gesellschaftsveränderung, an einer modernen linken Botschaft von der gerechten Umverteilung von Macht und Lebenschancen, von einer demokratischen Umgestaltung, von sozial-ökologischem Umbau der Gesellschaft und von umfassender Solidarität und Friedenssicherung - von den »Vier U«. Eine solche Erzählung stiftet linke Identität gegen die Erzählungen des Neoliberalismus und der rechten Kräfte.

Drittens: Arbeit am Zu-Stande-Kommen breiter gesellschaftlicher Unten-Mitte-Bündnisse und an einer gesellschaftlichen Wechselstimmung für die Bildung dezidiert links orientierterRegierungen.

Viertens: DIE LINKE hat teil an der Organisierung von kollektivem Widerstand, Protest und produktivem Aufbruch. Aber sie sollte sich weit mehr als bisher auch auf heftigste Kämpfe um die innere Verfasstheit der Millionen Individuen einstellen. Neoliberale und Rechte mobilisieren egoistische Neigungen, Konkurrenzverhalten, Rücksichtslosigkeit, Aggressivität, Gewaltbereitschaft und Menschenverachtung für ihre Ziele. Eine erst noch voll auszuschöpfende Stärke der Linken kann ihr Wirken für eine moralische Erneuerung der Gesellschaft werden, für andere Qualitäten des Menschen: für solidarisches Verhalten, Empathie, Verantwortung, Toleranz und Mitmenschlichkeit, für den Aufstand des Menschen im Menschen (Johannes R. Becher).

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