Weil es mit der Weltrevolution noch nicht geklappt hat

Stefan Reinecke hat ein Buch über Christian Ströbele geschrieben. Herausgekommen ist mehr als eine Politikerbiografie

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 7 Min.
»Christian Ströbele hat weniger zu bereuen als andere«, schreibt Stefan Reinecke in seiner Biografie über den Grünen. Es ist ein Buch über Haltung geworden. Anmerkungen zu einer vom Aussterben bedrohten Politiker-Eigenschaft.

Im SWR nennt Claus Heinrich den Grünen eine »zwielichtige Figur«. Barbara Möller kriegt sich in der »Welt« fast nicht mehr ein wegen seines angeblichen Opportunismus – und schilt den »taz«-Biografen, zu unkritisch gewesen zu sein: »So läuft das unter Genossen.« Der Totalitarismusreiter Eckhard Jesse attestiert dem Buch »eine gewisse Schwäche«, sofern der Journalist sich die Sichtweise des Porträtierten zu eigen mache. Man fragt sich, was diese Leute eigentlich gelesen haben.

Stefan Reinecke hat eine Biografie über Christian Ströbele geschrieben. Und weil hier sogleich Fragen von journalistischer Distanz und intellektueller Korruption aufgeworfen worden sind, gehören zwei Informationen an den Beginn dieses Textes: Ich erinnere mich sehr gern an die gemeinsame Arbeit mit dem Autor der Biografie. Und ich habe schon einmal den Biografierten bei einer Wahl angekreuzt.

Ich wohne in Ströbeles Wahlkreis. Er war der erste Grüne, der ein Direktmandat gewann und so in den Bundestag kam. Das war 2002. Ströbele machte damals gegen die Politik der Führung seiner eigenen Partei Wahlkampf, vor allem gegen den Außenminister. »Ströbele wählen heißt Fischer quälen«, war das Motto. Das war ziemlich erfolgreich. Und es war etwas, in dem sich die charakterliche Substanz des Politikers niederschlug: Haltung.

Ein blödes Wort, zugegeben. Weil es an Gymnastik denken lässt, an die autoritäre Aufforderung, bittesehr gerade zu sitzen. Und doch ist es genau der richtige Begriff, um über Ströbele zu reden. Über einen Menschen, der von seinen Positionen bei veränderter Großwetterlage nicht einfach abrückt, selbst wenn mancher Gedanke nur noch in der historischen Beschau erklärbar ist. Ströbele läuft nicht mit diesem demonstrativen Sündenstolz herum, der an denen weithin sichtbar klebt, die von den Teilen ihrer Biografie nichts mehr wissen wollen, die zu den anderen Teilen nicht so gut passt.

Der Grüne ist immer dabeigeblieben. Auch wenn es wehtat. Auch wenn die anderen ihm daraus einen Vorwurf machten.

Geboren 1939 in Halle, der Vater Chemiker in den Buna-Werken in Schkopau. Die Zwangsarbeiter des NS-Regimes waren nur zwei Kilometer vom Elternhaus entfernt eingepfercht. Als die US-Armee das Werk im April 1945 besetzte, nähte die Mutter die Hakenkreuz-Fahne des Hauses in rote Turnhosen um. Später wird sie Anthroposophin. Die Familie zieht in den Odenwald und bald weiter nach Marl, wo Christian Abitur macht. Sein Onkel ist der Sportreporter Herbert Zimmermann, der sich bei den Nazis freiwillig an die Ostfront meldete. Die Verstrickung ins NS-Regime wird zu Hause nicht thematisiert. Reinecke: »Es herrscht eine Art des Redens, das viel ausklammert und wenig offenbart.« So wie in fast allen deutschen Familien über Jahrzehnte.

Ströbele geht zum Bund, lehnt dort die Beförderung zum Gefreiten ab – er hatte zuvor schon Freunde beraten, wie den Komissköppen erfolgreich zu widersprechen ist. Ströbele erinnert sich daran als an einen »der dramatischsten Akte in meinem Leben«. Es ist eine Art Initialerlebnis: Zivilcourage und Rechtskenntnis – von nun an sind das zwei Pfeiler, an denen seine Biografie verankert ist.

Ströbele geht nach Westberlin, studiert Jura, bleibt in der Frontstadt hängen, die zugleich ein Biotop des Andersseins ist: Boheme, Proteste gegen den Vietnamkrieg, Demonstrationen. Den Mord an Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 beschreibt Reinecke als »die Urszene« einer Gewalt, die in den kommenden Jahren, Jahrzehnten einen zentralen Rahmen für Ströbeles Wirken ausmacht: die Gewalt des Staates und die Gewalt von links.

Der RAF-Jurist, der »taz«-Mitgründer, der Anwalt der linken Szene – es sieht so aus, als ob Ströbele immer schon und sozusagen organisch in diese bundesrepublikanische Geschichte eingewoben war. Doch es ist ganz anders. Er war dabei – aber er stand immer ein paar Zentimeter neben dem Hauptstrang, manchmal waren es sogar viele Meter.

Als die meisten alle Hoffnung in die SPD schon hatten fahren lassen, tritt Ströbele in die Partei ein. Als viele Linke am liebsten selbst Rudi Dutschke sein wollen, bleibt Ströbele ein Beobachter der 68er. Als viele das überkommene Korsett der bürgerlichen Familie auf dem Ticket »freier Liebe« abstreifen wollen, heiratet Ströbele. Kurz bevor es die ersten Hausbesetzungen der Bundesrepublik gibt, kauft sich das Paar eine Eigentumswohnung – die Eltern bezahlen.

Auf eine Weise bleibt Ströbele sich dabei treu, die vor allem im Kontrast zu den prominenteren Biografien auffällt, die die seine kreuzen. Als Referendar fängt er bei Horst Mahler an – der von einer schlagenden rechten Burschenschaft zur RAF kam und später bei der NPD landete. Er arbeitete mit Otto Schily zusammen – der in der Wielandkommune lebte, Mahler verteidigte, von einem liberalen Bürgerrechtler zum Inbegriff des Hardliners im Amt des SPD-Innenministers wurde. Ströbele ist mit Joschka Fischer gemeinsam in einer Partei Mitglied – dem ach so revolutionären Kämpfer aus Frankfurter Zeiten, der schnell zum Oberrealo, Kriegsminister und später auch Lobbyisten wird.

Es ist heute üblich, nicht bei denen auf eine Erklärung über ihre Biografie zu insistieren, die viele Haken geschlagen haben, die politisch mit Inbrunst vertretene Positionen zu Gunsten gegenteiliger Auffassungen ablegten, die gestern hier waren und morgen da sein werden. Es ist stattdessen üblich, jene in vorwurfsvoller Pose zu befragen, die Haltung bewahrt haben.

Natürlich ist Ströbele deshalb kein Heiliger, im Gegenteil. Zu unkritisch ist er oft gegenüber Fehlern, fatalen Einschätzungen – zum beschämenden Antisemitismus etwa, der sich in die antiimperialistische Linke wie ein Geschwür fraß. Oder mit Blick auf den existenzialistisch verbrämten, todessehnsüchtigen Irrsinn der RAF, deren Versuch, mit Anschlägen eine »revolutionäre Front« in den Metropolen aufzumachen, in einen Gewaltstrudel führte, in dem nicht nur der Staat alle Grenzen überschritt. Reineckes Buch ist hier, und das ist gut so, hart, aber gerecht. Von wegen: »So läuft das unter Genossen.«

Ströbele könnte es sich leicht machen und sagen: Alles ein großer Irrtum gewesen. Es ist aber jede Anerkennung wert, dass er nicht die Flucht aus der eigenen Biografie angetreten hat wie so viele. Wer Reineckes Biografie nicht nur liest, um etwas Neues, Aufregendes über Ströbeles Rolle als RAF-Anwalt, als »taz«-Mitgründer, als Landespolitiker, als Kiezfigur, als Grünen-Außenseiter zu erfahren – der kann ein Buch über Haltung entdecken.

Es geht um »attitude« in der Politik. Es geht um eine vom Aussterben bedrohte Art, um einen Menschen, der sich als öffentliche Figur versteht, die sich um öffentliche Angelegenheiten kümmert. Und das gerade auch dann, wenn alle anderen schon längst wieder auf der nächsten Bühne stehen. Meist ist es eine, die mit dem Plüsch der Anpassung ausgepolstert ist.

Nicht so bei Ströbele. Er ist immer und in einem Sinne »Bürger« geblieben, der es nicht erlaubt, opportunistisch zu sein. Wer den Rechtsstaat wirklich verteidigt, kann dies nur glaubwürdig tun, wenn er damit nicht aufhört im Prozess gegen jene, die selbst den Rechtsstaat bekämpfen. Wer sagt, der Kapitalismus wird immer eine tödliche, unmoralische, asoziale Angelegenheit sein, dem wird man nur glauben, wenn er nicht das Gegenteil erzählt, sobald es dafür gute Diäten oder sonstwelche Privilegien gibt.

Am Ende des Buchs zitiert Reinecke Ströbeles vor ein paar Jahren gegebene Antwort auf die Frage, warum er immer noch Politik macht: »Weil es mit der Weltrevolution noch nicht geklappt hat.« Andere haben aus diesem oder aus schlimmeren Grünen längst auf einen Ministersessel, ins Private oder auf die Seite jener gewechselt, die sich für die Sieger der Geschichte halten.

»Ströbele hat weniger zu bereuen als andere«, schreibt Reinecke. Das galt damals, wegen der eingehaltenen Distanz, die eine kritische Solidarität in der Sache nicht ausschloss. Das galt später, als es die anderen waren, die sich distanziert hatten und jede Solidarität unkritisch aufgaben. Auch deshalb, so Reinecke, sei er für Ex-Linke zur Projektionsfläche geworden: Weil sie als vermeintlich Geläuterte an ihm ihre eigene linksradikale Vergangenheit verachten konnten. Christian Ströbele hat eine Haltung. Das können sie ihm nicht verzeihen.

Stefan Reinecke: Ströbele. Die Biografie, Berlin Verlag, 464 Seiten, geb., 24 €.

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